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Schulkinder in einer Grundschule in Stuttgart teil. dpa

© picture alliance/dpa/Bernd Weißbrod

Schulen und Kitas müssen Chancen bieten: Schalten Eltern den Fernseher aus, weil hundert Euro mehr im Portemonnaie sind?

Prekäre Begriffe wie „Kinderarmut“ gehen an der Problematik vorbei, um die es geht. Denn ausschlaggebend ist nicht nur die finanzielle Situation der Familien, sondern ihr Bildungsniveau.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Armut und Chancenarmut sind nicht überall deckungsgleich. Bitterarme Familien, die sich das Schulgeld vom Mund absparen, gibt es in demokratischen Rechtsstaaten nicht – Schulgeld wird nicht erhoben.  

Hier ist jedes Schulkind Stipendiat der Gesellschaft. Nur gehen am ersten Tag manche durch das Schultor, die sich flüssig ausdrücken können, Märchen gehört und Museen besucht haben, und schonmal am Meer oder in den Bergen waren.

Gegenteil von Kinderreichtum

Anderen Kindern wiederum fehlen solche Anregungen und Möglichkeiten. Dieses Fehlen wird neuerdings etwas schief „Kinderarmut“ genannt, was eigentlich das Gegenteil von Kinderreichtum wäre.  

Analog zu „Altersarmut“ suggeriert der Begriff „Kinderarmut“, es gebe Minderjährige, denen man wie Straßenmusikern Geld in die Mütze werfen müsste. Aber Kinder sind nicht arm. Familien sind arm, etwa wenn Eltern von Sozialleistungen leben oder im Niedriglohnsektor arbeiten.

„Kinderarmut“ ersetzt den als stigmatisierend empfundenen Begriff „Bildungsferne“, und die derzeit vom Familienministerium geforderte, milliardenschwere „Kindergrundsicherung“ suggeriert schiere Existenznot. So wird der Mangel an Bildung gleichgesetzt mit privatem Mangel an Finanzen.

Flankiert wird das Projekt des Ministeriums von der „Kurzexpertise“ genannten Studie „Kosten (k)einer Kindergrundsicherung“ eines Consulting-Unternehmens, Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Chancenlose Menschen ohne Schulabschluss

Die Expertise im Auftrag der Diakonie fußt auf Statistiken, wonach Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden und solche mit mehreren Geschwistern „materiell, sozial, kulturell oder gesundheitlich Beeinträchtigungen aufweisen“.

Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie, betont „110 bis 120 Milliarden Euro an Folgekosten“, die solche Ungleichheit produziert. Chancenlose Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung belasten Transferkassen, Gesundheitssystem, Exekutive und Legislative – davon abgesehen, dass sie oft weniger glücklich sind. Das ist sonnenklar.

Keine schnelle Lösung

Doch das Verteilen von Geldern an Elternhäuser mindert nicht automatisch die Verhältnisse der Kinder. Werden Eltern, die fettes und süßes Essen bevorzugen, ihre Zuschüsse zum Biomarkt tragen? Schalten Eltern den Fernseher aus und fangen an, ihren Kindern vorzulesen, weil hundert Euro mehr im Portemonnaie sind? Gehen sie deshalb dann mit den Kindern Wandern oder ins Museum? 

Seit Jahren aber versichern Studien, mehr Mittel für finanziell knappe Familien kämen direkt bei den Kindern an. Doch welche Eltern würden bei einer Umfrage erklären, dass sie Geld für Videospiele ausgeben, für Tattoos, Nagelstudios, Hundefutter, Alkohol, Tabak, Streamingdienste oder Lottoscheine?  

Was Kinder brauchen – Sprache, Dialog, Vorlesen, Musik, Ausflüge, Anregungen, Bewegung – haben viele Eltern selber nicht erlebt. Wie sollten sie etwas weitergeben, was ihnen fern bis unbekannt ist?  

Aufgabe des Staates

Lehrkräfte an Brennpunktschulen schätzen das realistisch ein. In der Praxis, ist zu hören, bleiben selbst Mittel, die Eltern, etwa als Büchergeld, abholen könnten, oft schlicht ungenutzt. Viel zu viel verlangt ist es, dass diese Eltern mit etwas mehr Geld den Antrieb entwickeln, ihre Kinder zu fördern.

Auf Elternhäuser darf nicht abgewälzt werden, was Aufgabe des Staates wäre: exzellente Frühbetreuung, erstklassige Schulen, das Beseitigen der desaströsen, bildungspolitischen Mangelwirtschaft.

Armut als Über-Forderung

Solange enorm viel Personal in Kindergärten und an Schulen fehlt, und tausende Stunden Unterricht ausfallen, ist der Ruf nach Geldgaben für überforderte Eltern in chronifizierter Armut nichts als eine Über-Forderung.  

Sinnvoller sind Plädoyers wie das von Heinz-Peter Meidinger, Präsident des deutschen Lehrerverbandes. Er setzt etwa auf verpflichtende und kostenlose Förderkurse für Kinder mit Defiziten im Lernen und auf einen neuen Digitalpakt Schule. Der erste hat gerade an Schulen in sozial schwachen Quartieren nicht ausgereicht.

Was gebraucht wird

Gebraucht werden kleinere Klassen, mehr Lehrkräfte, mehr pädagogisches Personal, mehr Ausflüge, Klassenreisen, Exkursionen. Gefördert werden sollten Initiativen wie „JeKits – Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“, die Musik an die Schulen bringen.

Wenn Schulen Gutscheine für Sportbekleidung ausgeben, wenn Sportvereine gefördert werden, können Jungen und Mädchen mitmachen. Wo eine Schulmensa gutes Essen bietet, ist etwas für die Gesundheit getan, ebenso mit verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen für Minderjährige.

Wo Bildungsferne verhindert, dass ein Kind das Schiff der Chancen besteigt, muss das Schiff näher am Kind ankern, so nah, so früh als irgend möglich.   

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