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Ein überraschender Tour-Sieger vor imposanter Kulisse. Der Däne Jonas Vingegaard im Jahr 2022.

© imago/Panoramic International/IMAGO/Vincent Kalut

Mythos mit Makel: Warum immer noch Millionen Menschen die Tour de France schauen

Eine ARD-Dokumentation verwendet viel Zeit auf die Doping-Problematik. Doch am Ende überwiegt die Begeisterung für ein einzigartiges Sport-Event, das der Sender auch 2023 überträgt.

„Das wird die härteste Tour aller Zeiten“, sagt Jan Ullrich wenige Tage vor der 110. Austragung der Frankreich-Rundfahrt. Alpen, Pyrenäen, Jura, Vogesen, Zentralmassiv – das sei schon heftig, begründete der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger seine Einschätzung in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung.

Der Rostocker Ex-Radprofi steht wie kein Zweiter sowohl für die Begeisterung der Deutschen für den Radsport als auch die tiefsitzende Ablehnung einer Sportart, die nach wie vor mit Lug, Betrug und Doping in Verbindung gebracht wird.

Dabei haben die Fernsehzuschauer in Deutschland der Tour noch lange nach den ersten großen Skandalen – 1998 der Ausschluss der Festina-Mannschaft – die Treue gehalten. Der Zweikampf zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong bescherte der ARD sogar noch im Jahr 2003 über neun Millionen Zuschauer und Marktanteile von an die 60 Prozent. Da lag der Doping-Tiefpunkt allerdings noch vor der Rundfahrt und dem Ausstieg von ARD und ZDF aus der Liveberichterstattung im Jahr 2007.

Der Saarländische Rundfunk als federführender ARD-Sender für den Radsport begleitet den Start der 2023er-Frankreich-Rundfahrt am Samstag mit der dreiteiligen Dokumentation „Mythos Tour“, die von Donnerstag an über die ARD-Mediathek angesehen werden kann.

Die Autoren Ole Zeisler und Uli Fritz gehen mit der Tour, den Teams und den Fahrern hart ins Gericht. Sie verwenden viel Zeit auf die Schattenseiten des Radsports. Sie zeigen auf, dass kleinere Betrügereien wie Abkürzungen oder illegale Leistungssteigerungen fast seit Anbeginn dazu gehörten. Wobei Doping-Täter zugleich Opfer des Radsport-Systems sein können, wie am Beispiel des italienischen Radprofis Marco Pantani festgemacht wird.

So sehr die Dokumentation den Nimbus der Tour infrage stellt, erliegen aber auch Zeisler und Fritz der Faszination und Begeisterung, wie sie von Ex-Profi Tony Martin und Simon Geschke, dem aktuell dienstältesten deutschen Tourteilnehmer, aber auch von Tourlegende Bernard Hinault getragen wird.

1,5 Millionen Zuschauer in der Spitze

Die TV-Quoten der Ullrich-Jahre sind Geschichte. Die Quoten pendeln bei der ARD seit dem Wiedereinstieg bei etwas mehr als einer Million Zuschauer. Wenn es die besonders schwierigen Berge wie l'Alpe d'Huez hochgeht, können es schon mal 1,5 Millionen werden. Dazu kommen einige Hunderttausend Radsportenthusiasten bei Eurosport. In ganz Europa kommt die Tour auf geschätzt 50 Millionen Zuschauer.

Das sind keine Zahlen wie bei Fußball oder Olympia, aber offenbar genug zum Weitermachen. Was nicht zuletzt der imposanten Kulisse der französischen Landschaften zwischen Provence und Bretagne geschuldet ist. Die Kämpfe auf den Kopfsteinpflaster-Passagen sind für Ex-Profi und Radsportkommentator Jens Voigt dabei so nah am Gladiatorentum der Römer dran, wie es nur geht. Gerade das Leiden der Fahrer auf den 3500 Tour-Kilometern mit ihren Zig-Tausend Bergkilometern trägt zum Mythos der Landesrundfahrt bei.

„Die Tour de France ist mehr als das größte Radrennen der Welt“, darf Tour-Direktor Christian Prudhomme sagen. Sport zunächst, aber zugleich Geschichte, Philosophie, Kultur. Die Tour gefällt nicht nur denen, die Sportfans sind. Zumal es neue Hoffnungsträger gibt, so wie den Franzosen Guillaume Martin. Parallel zu seiner Radsport-Karriere hat er einen Philosophie-Abschluss erworben und betrachtet das als intellektuellen Ausgleich zur körperlichen Herausforderung.

Ich bin absolut sauber und stolz darauf, was ich erreicht habe. Meinen Sieg kann mir niemand mehr nehmen.

Jonas Vingegaard, Sieger der Tour de France 2022.

Im vergangenen Jahr hat der Däne Jonas Vingegaard die Tour gegen den Favoriten Tadej Pogacar gewonnen. Die Kritik am Radsport angesichts der Doping-Vergangenheit könne er verstehen, aber er selbst und „ein großer Teil des Radsports“ seien sauber, sagt er. „Ich bin stolz darauf, was ich erreicht habe, und dass mir niemand meinen Sieg nehmen kann.“

Ob beabsichtigt oder nicht: Die ARD-Dokumentation unterstreicht insbesondere in dem, was sie nicht anspricht, wie gespalten das Verhältnis insbesondere der Deutschen zur Tour ist. Die Autoren lassen zwar den Frankreich-Freund Ulrich Wickert zu Wort kommen. Die Entscheidung zum ARD-Ausstieg sei richtig gewesen und habe auch seinem Gefühl entsprochen, sagt der ehemalige „Mr. Tagesthemen“.

Wie distanzlos speziell die ARD mit ihrem damaligen Sportchef Hagen Boßdorf – dem Verfasser der Jan-Ullrich-Biografie „Ganz oder gar nicht“ – sich zum Teil des Tourspektakels gemacht hat und dabei quasi zum verlängerten PR-Arm von Team Telekom wurde, erwähnen sie nicht. Dabei wäre das ebenso wichtig, wie das späte Doping-Geständnis von Michael Rasmussen, ohne das ein Neuanfang unmöglich gewesen wäre.

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