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Bilden eine widerwillige Schicksalsgemeinschaft. Angus Tully (Dominic Sessa) und sein Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti).

© Universal/Focus Features

„The Holdovers“ im Kino: Weihnachten mit Kotzbrocken

Alexander Paynes grandios schlecht gelaunter Generationen-Clash „The Holdovers“ hat die Herzen der Oscar-Wähler erwärmt. Das ist auch Hauptdarsteller Paul Giamatti zu verdanken.

Von Andreas Busche

Niemand möchte mit Paul Hunham in einem Raum sitzen. Das hat allerdings weniger damit zu tun, dass er an der Stoffwechselerkrankung Trimethylaminurie leidet, die ihn mit einem penetranten Fischgeruch umgibt. Der Dozent für antike Zivilisationen ist auch menschlich ungenießbar, für seine Umwelt hat er kaum ein freundliches Wort übrig. Wenn Paul so richtig in Fahrt kommt, reichen seine Beleidigungskaskaden weit zurück in die Menschheitsgeschichte.

Seine Schüler nennt er wahlweise „Troglodyten“ (Höhlenmenschen), „Philister“ oder „zähnefletschende Visigothen“. Selbst wenn diese mit den Verbalinjurien wenig anfangen können, Pauls gehässiger Tonfall und der abfällige Blick aus seinem trägen Glasauge verraten seine Verachtung für die junge Generation mit ihrer Anspruchshaltung, welche sich nicht auf Leistung, sondern allein auf ihre Herkunft stützt.

Schwarzhumorige Misanthropie

1970 wurde diese dunkle Pädagogik an amerikanischen Colleges noch toleriert, aber auch in Alexander Paynes „The Holdovers“ bricht langsam eine neue Zeit an. Ein Schüler am neuenglischen Barton College ist gerade im Vietnamkrieg gefallen, und die Methoden des Geschichtslehrers finden auch im Direktorium immer weniger Rückhalt. Der Schulleiter Woodrup (Andrew Garman), der als Jugendlicher selbst unter Paul (Paul Giamatti) gelitten hat, sieht seinen Moment der Rache gekommen, als die Weihnachtszeit bevorsteht.

Er vermiest Paul seine Festtage – zwei Wochen ohne Schüler, zurückgezogen in sein Studienzimmer, mit einer Pfeife und einer Flasche Jim Beam –, indem er seine Nemesis dazu verdonnert, auf eine Handvoll Schüler aufzupassen, die Weihnachten nicht bei ihren Familien verbringen, sondern im Internat zurückbleiben. Eine Idee, von der weder Lehrer noch Schüler begeistert sind.

Paul ist eine Figur wie geschaffen für den Regisseur Alexander Payne, der schon in seinen früheren Filmen mitunter einen Hang zur schwarzhumorigen Misanthropie pflegte. Paul Giamatti erweist sich als perfekte Besetzung für diese Sorte von zur Grandiosität neigendem Loser, der seine eigenen Unzulänglichkeiten an der Umwelt auslässt. Vor fast zwanzig Jahren hatte Payne diese kleinen Unwägbarkeiten in Giamattis stets leicht auf Distanz gehaltenem Spiel schon einmal in der Tragikomödie „Sideways“ zur Geltung gebracht.

Paul allerdings ist noch mal ein anderes Kaliber als der an der Welt verzweifelte Wein-Connaisseur Miles: ein zutiefst verkorkster Charakter, ein wahrer Kotzbrocken, um genau zu sein, der am Ende natürlich mit Hilfe seiner Schüler die Menschlichkeit für sich entdeckt. Für seine Rolle als Paul gewann Giamatti bereits den Golden Globe; dass nun sowohl er als auch seine Kollegin Da’Vine Joy Randolph für Oscars nominiert sind, spricht für Paynes Stärke, ein Ensemble anzuleiten (sowie für David Hemingsons ebenfalls nominiertes Drehbuch).

Die Schule als Abbild Amerikas

Randolph spielt die afroamerikanische Schulköchin Mary. Sie ist die Mutter des im Krieg gefallenen Schülers, die die Feiertage mit ihrem Schmerz über den Tod ihres Sohnes in größtmöglicher Nähe zu dem Ort verbringt, der ihm eigentlich den sozialen Aufstieg hätte ermöglichen sollen. Stattdessen musste er sich freiwillig zum Wehrdienst melden, weil seine Mutter das Geld fürs College nicht mehr aufbringen konnte.

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Mary ist die Einzige, die Pauls schlechter Laune Paroli bietet; Paul wiederum ist der Einzige, der die Rolle Marys in der sozialen Ordnung Amerikas Anfang der 1970er – welche das Barton College in klein perfekt verkörpert – verstanden hat. Abends schleicht er sich aus seinem Studienzimmer in den Gemeinschaftsraum, gemeinsam gucken sie auf der Couch die Quizshow „The Newlywed Game“.

Zunächst wirkt „The Holdovers“ wie eine weitere Variation vom Highschool-Klassiker „Breakfast Club“: eine Gruppe gegensätzlicher, undisziplinierter Jugendlicher unter der Aufsicht des schlecht gelaunten Lehrkörpers. Die sozial Ausgeschlossenen, die niemand haben möchte – nicht mal die eigene Mutter –, unter sich. Letzteres gilt für den aufsässigen Angus Tully (Newcomer Dominic Sessa), der eigentlich viel zu schlau dafür ist, sich seine Zukunft zu verbauen.

Angus bleibt mit Paul und Mary in Barton zurück, als den anderen holdovers gerade noch der Absprung mit dem Privathelikopter vom Vater des Großmauls Kountze (Brady Hepner) gelingt. Angus, arrogant, schlaksig und mit einem wachen Blick für die Inkongruenzen der Adoleszenz, liefert sich höchst unterhaltsame Wortgefechte mit Paul, moderiert von der scharfzüngigen Mary, deren resoluter, sichtlich von Kummer getränkter Humor Paynes Film vor einem „Club der toten Dichter“-Pathos bewahrt.

Der etwas andere Weihnachtsfilm

So begleitet man diese notdürftige Schicksalsgemeinschaft durch die wohl unwahrscheinlichste Weihnachtsgeschichte im jüngeren Hollywoodkino. Während Payne geduldig die Tage bis zur Erlösung der drei durchzählt, wächst da etwas zusammen, was man durchaus auch ein gesellschaftliches Modell für eine neue Zeitrechnung nennen kann.

Angus (Dominic Sessa), Paul (Paul Giamatti) und Mary (Da’Vine Joy Randolph) verbringen einige nicht ganz so harmonische Tage unterm Weihnachtsbaum.
Angus (Dominic Sessa), Paul (Paul Giamatti) und Mary (Da’Vine Joy Randolph) verbringen einige nicht ganz so harmonische Tage unterm Weihnachtsbaum.

© Seacia Pavao/Universal/Focus Features/Seacia Pavao

Mentor Paul steht, obwohl geistig fest zwischen alten Griechen und Römern verankert, bereits mit einem Bein in dieser neuen Zeit; sein widerwilliger Schützling Angus sucht noch – verlassen von den Eltern, drangsaliert vom Leistungsprinzip der Boomer-Generation – nach seinem Platz.

Und Mary, die neben dem Hausmeister Danny einzige schwarze Figur des Films, erinnert noch einmal an die komplizierte Historie Amerikas, die Anfang der siebziger Jahre immer noch nicht ganz überwunden war. Da’Vine Joy Randolph spielt sie so emotional ungeschützt, dass man für sie sehr viel Empathie, aber niemals Mitleid empfindet. „Ich brauche euer Mitleid nicht“, fährt sie dann auch einmal Paul an, als der sie zu trösten versucht.

Dieser gute Wille mutet mit über fünfzig Jahren Abstand natürlich mehr als naiv an. „The Holdovers“ würde nur zu gerne einer anderen Zeit entstammen. Mit seinen warmen, weichgezeichneten Bildern, den altmodischen Überblendungen in die Unschärfe und dem zerkratzen Studio-Logo zu Beginn beschwört Payne den Klassizismus der New-Hollywood-Ära herauf, in der kleine Geschichten wie diese noch von Hal Ashby oder John Cassavetes erzählt wurden und hoffnungsvolle Karrieren begründeten. (Im Fall von Da’Vine Joy Randolph und Dominic Sessa ist das gar nicht mal so unwahrscheinlich.)

Dieser Rückzug auf eine gute alte (wenn auch nicht unproblematische) Zeit, der durch die Vintage-Ästhetik noch verstärkt wird, erklärt vielleicht, warum Paynes Film – nicht nur unter Academy-Mitgliedern – auf solche Begeisterung stößt. Die Qualitäten von „The Holdovers“ liegen in seiner Konventionalität, die nie von den Fragen ablenkt, die Anfang der 1970er Jahre noch lange nicht beantwortet waren.

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