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Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer. Sie wurde 1947 in Au in Vorarlberg geboren.

© Nini Tschavoll/Hanser Verlag

Monika Helfers Roman "Löwenherz": Schauen wir mal

Nach dem Großmutter-Roman "Die Bagage" und dem Vater-Roman "Vati" setzt Monika Helfer mit „Löwenherz“ ihre Familienerzählung fort.

Richard ist, wie es im Österreichischen so schön heißt, ein Schmähtandler. Jemand, der immer neue Geschichten aus seinem Leben erfindet und am Ende sogar selbst daran glaubt. Ein Münchhausen, der seine Umgebung ständig narrt, ein Melancholiker, der womöglich mit seinen Anekdoten die eigene Traurigkeit zu überspielen versucht.

Richard ist die Hauptfigur von Monika Helfers neuem Roman „Löwenherz“. (Hanser, München 2022.192 S., 20 €.) Löwenherz – so nannte ihn sein Vater, der den Sohn zu seinem Lieblingskind erkoren hatte.

„Löwenherz“ ist der dritte Roman, den die 74 Jahre alte österreichische Autorin eng an ihrer Familie anlehnt. Ein schmales Buch mit vielen Zeitsprüngen, ähnlich wie zuvor die Erfolgsromane „Die Bagage“ und „Vati“. Auch in „Löwenherz“ gelingt Helfer die Kunst der Aussparung. Sie lässt ihre Sätze mit einer wunderbaren Leichtigkeit davonfliegen, ohne ihnen die Tiefe zu nehmen.

Es ist schon ziemlich hinterhältig, wie sich das Unheil in der Familie Helfer eingenistet hat. Josef, Monikas Vater, verliert im Zweiten Weltkrieg ein Bein. Später wird er Verwalter eines Kriegsopfererholungsheims, das auf einem malerischen Hochplateau in Vorarlberg liegt.

Die Haltung Helfers zu ihrem Bruder ist ambivalent

Eines Tages begeht er, der sich am liebsten in seine Bücherwelten flüchtet, einen Selbstmordversuch, kurz darauf erkrankt seine Frau an Krebs und stirbt. Josef fällt in eine Depression, zieht sich in ein Kloster zurück, die Kinder werden auf verschiedene Verwandte verteilt. Der fünfjährige Richard landet bei der vornehmen Tante Irma, die ihn hemmungslos verwöhnt. Rund 40 Kilometer trennen ihn und seine drei Schwestern, die bei einer anderen Tante in Bregenz leben, allerdings sehen sich die Kinder nur selten.

Richard, mager und schmal gebaut, ist ein Eigenbrötler mit einem etwas schleppenden Gang. Einmal haut er von seinem Zuhause bei Tante Irma ab, um sich ein paar Tage in einer Felshöhle in den Bergen zu verkriechen. Später wird er Schriftsetzer, lebt allein, bis ihm ein struppiger Hund zuläuft, den er Schamasch nennt. Ein Ausflug auf dem Bodensee wird ihm fast zum Verhängnis: Richard, der nicht schwimmen kann, hat eine alte Badewanne zum Boot umfunktioniert und kippt auf der Fahrt ins Wasser.

Doch der Badeunfall erweist sich später als Glück: Kitti, eine junge Frau mit Kleinkind, rettet ihn mit einer Luftmatratze. Später wird sie das Mädchen, Putzi genannt, bei ihm abladen, und der unfreiwillige Vater nimmt seine neue Rolle begeistert an. Auf einmal hat er, der Einzelgänger, das Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden. Richard, Putzi und Schamasch werden ein eingeschworenes Trio, bis das Schicksal wieder einmal auf hinterhältige Weise dazwischengrätscht.

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Monika Helfers Haltung zu ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder ist ambivalent. Sie sorgt und kümmert sich um ihn, gelegentlich auch um Putzi, erlaubt sich aber auch, loszulassen, Distanz aufzubauen. Es sind viele verrückte Geschichten, die die Autorin um ihren Bruder herum erzählt.

Ob sie alle stimmen, weiß Helfer selbst nicht. Denn das, was Richard, der Schmähtandler, von sich gibt, ist bekanntlich mit Vorsicht zu genießen. Gleichzeitig verkörpert Richard, der Weltfremde, für sie eine philosophische Haltung, aus der sich womöglich etwas lernen lässt: Er ist ein „Mann ohne Antrieb“, der sich lieber zurücklehnt als agiert. „Die Welt einfach nur anschauen. (...) Am Ende werden wir alle sagen: Wir haben zu viel getan und zu wenig geschaut.“

Richard ist ein Weiser und ein Loser zugleich. Mit ihm hat Monika Helfer das Repertoire der Sonderlinge, wie wir sie aus der Literatur kennen, zum Beispiel in Georg Büchners Erzählung über den angstgetriebenen Lenz („Lenz“) oder in Günter Grass' Roman über den eigensinnigen Trommler Oskar Matzerath („Die Blechtrommel“), eindrucksvoll erweitert.

Michael Köhlmeier kannte "Löwenherz" gut

Auch Monika Helfers neuer Roman funkelt mit seinen vielen originellen Bildern. Wenn Helfer etwa von der großen Liebe des Vaters zu seinem Sohn erzählt, die Richard in diesem Maße gar nicht braucht. Diese Liebe, heißt es, sei in „so konzentrierter Form“ nicht genießbar, wie ein Suppenwürfel. Die Suppenwürfel-Liebe, also ein Zuviel an demonstrativer Zuneigung, ist eines dieser Bilder, die einem nach der Lektüre lange im Kopf bleiben.

Doch trotz seiner Stärken fällt das Buch gegenüber den beiden Vorgänger-Romanen etwas ab. Das liegt vor allem daran, dass Monika Helfer häufig Gespräche über Richard einblendet, anstatt direkt von ihm zu erzählen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, hat sie häufig über ihren jüngeren Bruder nachgedacht.

"Löwenherz" ist auch ein Zeitdokument

Köhlmeier kannte Richard gut. Die Männer befreundeten sich, kurz nachdem Helfer und Köhlmeier ein Paar geworden waren – „ich glaube, Michael kannte ihn besser, als ich ihn kannte“, resümiert Helfer.

Hinzu kommt, dass die Autorin immer wieder über sich und ihre Beziehung zu Köhlmeier schreibt, aber eher distanziert und gerafft. Man hat das Gefühl, dass die Kameraführung hier unscharf wird, und das geht auf Kosten der atmosphärischen Dichte.

„Löwenherz“ ist eine Familiengeschichte, aber auch ein Zeitdokument. Der Tod der RAF-Terroristen 1977 im Gefängnis Stammheim wird gestreift ebenso wie der Suizid von Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor. Der Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe fällt auf den Tag, an dem Monika Helfer ihren 30. Geburtstag feiert. Ein paar Jahre später wird sich Richard das Leben nehmen, im Alter von gerade einmal 30 Jahren.

Der Suizid trifft seine Schwester hart. Sie hat Schuldgefühle, bedauert, sich in den Jahren vor seinem Tod nicht genug um ihn gekümmert zu haben, zu sehr in der eigenen Familienblase mit vier Kindern verstrickt gewesen zu sein. Was ihr letzten Endes Halt gibt, ist wieder einmal die Macht des Wortes. Im Zusammenhang mit Richards Tod fällt ihr das Wort „Schlafesruh“ ein. Ein Wort wie ein Mantra, mit dem sie sich selbst beruhigen kann.

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