zum Hauptinhalt
Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer, 1947 in Au im Vorarlberg geboren.

© Isolde Ohlbaum/Hanser Verlag

Monika Helfers Buch "Vati": Er wäre so gern modern gewesen

Mit „Vati“ hat die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer nach "Die Bagage" ein weiteres, außergewöhnliches Erinnerungsbuch geschrieben.

Vor einem Jahr erschien mit „Die Bagage“ ein schmaler Band der 1947 in Au im Bregenzerwald geborenen Schriftstellerin Monika Helfer, den nicht nur die Kritik durchweg gelobt hat, sondern der auch ein erstaunlicher Verkaufserfolg wurde. „Die Bagage“ erzählt ärmlichste Familienverhältnisse am Rande eines Bergdorfs.

Im Mittelpunkt steht Helfers Großmutter, die um ihr Überleben kämpft, die verspottet und bedrängt wird von den Mächtigen der bigotten Provinzgemeinde. Dabei erwies sich die Autorin als einfühlsame Chronistin eines prekären Landlebens zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. Zudem bewies sie, dass im Genre der Autofiktion leise Töne literarisch oft ergiebiger sind.

„Vati“ heißt nun Helfers neues Erinnerungsbuch (Hanser, München 2021.160 Seiten, 20 €.), und schon in den ersten, harmlos wirkenden Sätzen zeigt sich das Drama der Titelfigur: „Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.“ Josef Helfer wirkt auf seine Kinder allerdings wie ein Mensch, der sich selbst und allen anderen etwas vormacht.

Er scheint seltsam aus der Zeit gefallen zu sein, bis ins hohe Alter unnahbar und verschroben. Als der Vater alt und grau ist, treffen sich die Töchter Renate und Monika mit ihm in Berlin. Spätabends landen sie in einem „Schwulenlokal“, weil alle anderen Restaurants schon geschlossen haben. Dort blüht der Mann plötzlich auf, trinkt Schnaps mit den anderen Gästen, die den erstaunten Kindern zu verstehen geben, der Vater sei in Wahrheit „ein bunter Mann“: „Um meine Schwester und mich kümmerte er sich nicht mehr. Wir hörten ihn reden in einem Ton, den wir an ihm nicht kannten, laut und deutlich, sonst murmelte er so vor sich hin, oft musste man nachfragen. Einer von den Männern kam an unseren Tisch und sagte: ,Setzt euch doch zu uns. Euer Vater ist ein Guter, ein wirklich Guter wir mögen ihn gern.’“

Dieses Mal geht es um Helfers Vater

Wie in „Die Bagage“ ist auch hier eine Vaterfigur von den Zumutungen seiner Zeit gebeutelt: Josef muss als junger Soldat nach Russland, und nach schlimmen Erfrierungen im Kriegswinter wird ihm der Unterschenkel amputiert. Im Lazarett lernt Josef die resolute Grete kennen, die man aus dem Vorgängerbuch kennt.

Er ist wohl schon sehr angetan von ihr, bleibt aber so scheu, dass es schließlich sie ist, die ihm einen Heiratsantrag macht. Grete weiß nur wenig über den künftigen Gatten, der vermutlich aus Scham nicht viel über seine Familie preisgeben möchte: „Unser Vater hatte unsere Mutter angelogen. Er hatte ihr erzählt, er habe niemanden. (…) Seine Eltern seien schon gestorben, als er ein Kind war. Keine Verwandten. Und so weiter. Eine andere Herkunft hatte er ihr ausgemalt. Eigentlich sich selber ausgemalt. Keine reichen Leute, natürlich nicht, aber auch nicht so erbärmlich arme.“

Josef möchte partout „in die neue Zeit“ hinpassen, die Vergangenheit soll vergessen werden. Tatsächlich bekommt er trotz Behinderung eine passable Stelle, wird Verwalter in einem Erholungsheim für Kriegsopfer auf einem Hochplateau namens Tschengla.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Hier führt er ein strenges, eigenwilliges Regiment, zu dem auch gehört, manche Gäste länger zu beherbergen als erlaubt, wie etwa den kriegsversehrten Sohn eines Tübinger Professors, der dem Heim aus Dankbarkeit seine Bibliothek vermacht. Für Josef sind die Bücher, für die sich sonst kaum jemand interessiert, ein großer Schatz. Als sich die Verwandlung des Heims in ein Hotel andeutet, schafft er die wertvollen Lederfolianten zur Seite.

Monika Helfers so bedrückendes wie berührendes Erinnerungsbuch erzählt einerseits von dem frühen Tod der Mutter und dem Zerfall einer Familie und entwickelt sich andererseits zu einem Portrait der Nachkriegsgeneration. Denn das unverschämte Verhalten des Vaters ist kein Einzelfall. Helfer ist einem Epochenproblem auf der Spur, nämlich der Egomanie von Männern, die der Krieg zum Krüppel machte und die ihre Rücksichtlosigkeit mit dem Verweis auf eigene Qualen entschuldigen.

Besonders bitter dabei ist, dass die Büchersucht in der Rückschau eine Art Ersatzbefriedigung zu sein scheint. Vielleicht wollte Josef gar kein Vati sein, hätte lieber ein anderes, ein „buntes“ Leben führen wollen

Dass solche Widersprüche nicht im Selbstbetrug enden müssen, dass es auch anders geht, nämlich freier und selbstbestimmter, zeigen übrigens die Exkurse in der weit verzweigten Verwandtschaft der Autorin: Onkel Sepp etwa heiratete eine Prostituierte, wurde von den Geschwistern übel beschimpft und litt schrecklich, weil die Frau weiterhin auf den Strich gehen wollte. Als er die Scheidung einreichte, ließ ihn die Familie hochleben, „aber nach einem Jahr hat er dieselbe Frau wieder geheiratet“.

Helfer ist eine versierte Dramaturgin

Die Schriftstellerin Monika Helfer trägt die unterschiedlichen Lebenswege ihrer Familienmitglieder in sehr verschiedenen Tonlagen vor. Sie scheut sich weder vor Pathos noch vor Pointen. Sie nutzt persönliche Erfahrung, um Grundsätzliches über die Menschen in ihrer Umgebung zu erfahren, aber auch um die familiäre Sprachlosigkeit in Worte zu fassen.

Der Vater jedenfalls hat über seine Sehnsüchte nie gesprochen; und die Tochter war insgeheim froh über die Verschwiegenheit, weil sie sich vor Peinlichkeiten fürchtete. „Ja, alles ist gut geworden“, sagt die Erzählerin. „Auf bösartige Weise ist alles gut geworden.“

Wie schon „Die Bagage“ ist auch „Vati“ keine voyeuristische Nabelschau, sondern gelungene Literatur, in der das Schreiben, das auf Erinnerung setzt, immer auch selbstkritisch beäugt wird.

Die Autorin ist eine äußerst versierte Dramaturgin ihres biografischen Materials, das zwar von guten und schrecklichen Erlebnissen, von lustigen und aberwitzigen Familiengeschichten lebt, vor allem aber von der literarischen Kunst, die Geschichte eines Menschen angemessen zu verdichten.

Monika Helfer nutzt Leerstellen als Spannungsmomente und stellt Fragen, die uns alle angehen: Was wissen wir überhaupt über die Menschen, die uns aufwachsen sehen, und was können wir aus den Fehlern der vorangehenden Generationen lernen?

Carsten Otte

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false