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Sandra Hüller am Freitagabend auf dem roten Teppich in Cannes bei der Weltpremiere von „The Zone of Interest“.

© action press/JACOVIDES-MOREAU / BESTIMAGE

Sandra Hüller in Cannes: Die Eiskönigin von Auschwitz

Die deutsche Schauspielerin ist dieses Jahr in zwei Filmen an der Croisette zu sehen. Mit dem Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“ sorgt sie am vierten Tag für Furore.

Von Andreas Busche

Man könnte sagen, Sandra Hüller hat noch eine Rechnung mit Cannes offen. Sie selbst würde das natürlich nie behaupten, höchstwahrscheinlich nicht mal denken. Aber vor sieben Jahren war sie mit Maren Ades „Toni Erdmann“ einmal ganz dicht dran, den – um den diesjährigen Jury-Präsidenten Ruben Östlund zu zitieren – wichtigsten Filmpreis der Welt (sorry, Oscars!) zu gewinnen.

Rückblickend heißt es, der Entscheidung für die Goldene Palme für Ken Loachs „Ich, Daniel Blake“ (und gegen den Kritiker- und Publikumsliebling „Toni Erdmann“) gingen Jury-interne Machtkämpfe voraus: Jury-Präsident George Miller gegen den Rest. Bis Cannes-Chef Thierry Frémaux sozusagen ein diplomatisches Machtwort sprach – zugunsten des Briten.

Seitdem wartet die Welt auf einen neuen Film von Maren Ade; ihre Produktionsfirma mit Jonas Dornbach und Janine Jackowski, Komplizen Film, ist dieses Jahr mit „About Dry Grasses“ des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan im Wettbewerb vertreten. Sandra Hüller entkam derweil der schwerfälligen Gravitationskraft des deutschen Kinos und schwebt seitdem im Orbit des europäischen Autorenfilms.

Ihre Rollen in deutschen Filmen wie „In den Gängen“, „Exil“ und „Ich bin Dein Mensch“ sind meist klein, dafür aber umso pointierter. Bis Frauke Finsterwalder ihr in „Sisi & Ich“ eine dieser idiosynkratischen Frauenfiguren anbot, mit denen Hüller seit einigen Jahren eher im französischen Kino auf sich aufmerksam macht. Frémaux merkte erst zu Beginn der Woche an, Sandra Hüller sei kein deutscher, sondern ein internationaler Star.

Landpartie mit Nazifamilie. Rudolf Höß (Christian Friedel) mit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und Kindern beim Baden.
Landpartie mit Nazifamilie. Rudolf Höß (Christian Friedel) mit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und Kindern beim Baden.

© A24

Hüller steht mit „The Zone of Interest“ ebenfalls im diesjährigen Wettbewerb. Es ist der erst vierte Film des britischen Regisseurs Jonathan Glazer, der vor zehn Jahren schon Scarlett Johansson mit der experimentellen Alien-Parabel „Under the Skin“ die Möglichkeit gab, außerhalb von Hollywood neue schauspielerische Facetten zu offenbaren.

Und nun also Hüller, die noch in einem zweiten Film im Cannes-Wettbewerb zu sehen ist: In Justine Triets „Anatomy of a Fall“ spielt sie eine Schriftstellerin, die des Mordes an ihrem Ehemann verdächtigt wird.

Doch seit der Premiere am Freitag ist „The Zone of Interest“ in aller Munde. Die ersten seismischen Erschütterungen in einem Wettbewerb, der bislang qualitativ durchaus hochwertig ist, aber im (mitunter fragwürdigen) Glanz der Auftritte von Johnny Depp, Harrison Ford und Leonard diCaprio in den ersten Tagen fast unter dem Radar verläuft.

„The Zone of Interest“, die sehr freie Adaption des Romans von Martin Amis, hat diesen Gleichmut nun ordentlich aufgerüttelt, gerade weil Glazer so klinisch und ungerührt inszeniert. An der Außenmauer des Konzentrationslagers Ausschwitz steht ein Einfamilienhaus mit Garten, das an die Vorstadtidylle westdeutscher Speckgürtel erinnert: bürgerliche Spießigkeit in unmittelbarer Nachbarschaft zum absoluten Bösen.

Hier leben der Lagerkommandant Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig, gespielt von Hüller, in vollkommener Ignoranz des Unvorstellbaren jenseits der Mauer, an die ein Gewächshaus anschließt. Die Schreie der Inhaftierten, das heisere Brüllen der Soldaten, gelegentliche Schüsse und das dumpfe Donnern der Hochöfen (das Sounddesign stammt von Mica Levi), die die Nacht in einem infernalischen Schein erleuchten, bilden den Hintergrund von Alltagsroutinen, die Glazer in meist statischen Einstellung filmt.

Die dunkle Seite der Conditio humana als Laborversuch

Glazers Setting ist provokant. Die Gegenüberstellung von Banalem und Bösen hat sich als Beschreibungsmuster für die dunkle Seite der Conditio humana inzwischen aber auch etwas abgenutzt. Die Sachlichkeit seiner Inszenierung, die apathische Tonlosigkeit der Dialoge simulieren in „The Zone of Interest“ eine Art Laborsituation, in die das Publikum seine eigenen Schrecken projizieren kann.

Doch man kommt auch nicht umhin, Bewunderung für Glazers formale Strenge, für die geometrischen Einstellungen und seine makellosen Interieurs zu empfinden. Und für Sandra Hüllers Kühle, die ihren spitzen Humor in ihren besten Rollen zum Frösteln bringen kann. Hier aber schlägt sie um in eine herrische Eiseskälte, als Hedwigs häusliches Reich durch die Nazi-Bürokratie bedroht wird; oder als das jüdische Hausmädchen einmal vergisst, den Tisch abzuräumen.

Nur ist die alte Frage des Kinos weiter virulent: Verbietet das Andenken an den Holocaust, selbst wenn die Gaskammern nur im Reich der Imagination verbleiben, nicht immer noch eine Ästhetisierung? Der Schrecken ist ein Effekt, ein Mittel der Immersion.

Eine Szene führt in „The Zone of Interest“ aus dieser hermetischen Welt heraus, öffnet sie hinein in die Gegenwart. Aber reicht das schon als Perspektivierung? Darüber wird in den kommenden Tagen sicher noch zu reden sein, denn als Kandidat für die Goldene Palme befindet sich Glazers FIlm nun aussichtsreich im Rennen. Und Sandra Hüller ist mit einer weiteren denkwürdigen Rolle zurück an der Croisette.

Auch Cannes-Stammgäste sind in diesem Jahr mit einigen ihrer besseren Arbeiten an die Croisette zurückgekehrt, was in den vorangegangenen Jahren nicht immer selbstverständlich war. Eine Bank ist hier der bereits erwähnte Nuri Bilge Ceylan, dessen „About Dry Grasses“, erneut mit einer Länge von 197 Minuten, eindrucksvoll eine komplexbehaftete und problematische Männlichkeit seziert.

Seine Hauptfigur ist ein Kunstlehrer, den das türkische Schulsystem in ein abgelegenes Kaff im verschneiten Anatolien verbannt hat. Hier pflegt er seine Misanthropie und eine (unschuldige) Obsession mit einer Schülerin, die ihm heimlich Liebesbriefe schreibt.

Szene aus „Le Retour“ von Catherine Corsini, Cannes
Szene aus „Le Retour“ von Catherine Corsini, Cannes

© @emmyloumai

Mit einer Kollegin, die bei einem Terroranschlag ein Bein verloren, ist er emotional und intellektuell eher auf Augenhöhe, aber er steht sich und seinem Glück immer wieder selbst im Weg. Ceylans wortgewaltige, immer wieder auch gegenüber ihren männlichen Figuren subtil spöttische Filme könnten durchaus mal eine positive Identifikationsfigur vertragen – und erst recht eine ebenbürtige Frau –, aber das tut dem Spaß an „About Dry Grasses“ keinen Abbruch.

Auch der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda betritt mit „Monster“ nach zuletzt immer formelhafteren Sozial-Tragikomödien Neuland – erzählerisch und auch, was die Genauigkeit seiner Beobachtungen betrifft. Die elliptische Erzählweise lenkt zwar ein wenig vom Kern seiner Geschichte ab: der zarten, nie weiter ausformulierten Freundschaft zweier Jungen in einem kleinen japanischen Ort. Aber die Bewegungen des Figurenensembles führen ruhig und konzentriert zu einem unsentimentalen Happy-end.

Und dann ist da noch Catherine Corsini, deren wunderbarer Mutter-Töchter-Film „Le Retour“ zumindest in den Bildern auf der Leinwand die Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen die französische Regisseurin vergessen macht. Auch ihre jungen Darstellerinnen haben die Beschwerden bezüglich des Umgangs mit Minderjährigen am Set inzwischen entkräftet.

„Le Retour“ erzählt ein Coming-of-Age vor dem Hintergrund einer komplizierten Familiengeschichte zwischen dem Senegal und Korsika, entzieht sich aber in den unterschiedlichen Suchen nach einer Identität zwischen den Welten dem Sujet des Problemfilms. Corsini trifft einen ersten Ton mit großer Leichtigkeit. Einziger Wermutstropfen bleibt in Cannes das Wetter: Die Regenschirmhändler in den Straßen machen dieser Tage ein gutes Geschäft. Zum Glück ist das Kino im Moment ein guter Zufluchtsort.

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