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Einst Pumpwerk, heute Kulturort. Das Radialsystem V liegt direkt am Spreeufer.

© Doris Spiekemann-Klaas

Radialsystem V feiert 15. Jubiläum: Wilde Anfänge, mutige Projekte – ein Raum für Veränderung

Das Haus in Friedrichshain ist zu einer der wichtigen Anlaufstellen für Tanz und Musik in Berlin geworden. Nun zelebriert es „15 Years of Transformation“.

Man könnte die Geschichte eines Gebäudes erzählen, das mal ein Pumpwerk war. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten James Hobrecht und Rudolf Virchow ein damals hoch innovatives, wegweisendes System, um das Abwasser aus dem von Seuchen geplagten Berlin zu leiten. Mehr als hundert Jahre später, 2006, erschlossen Jochen Sandig und Folkert Uhde das Gebäude an der Spree als Kunstort neu – unter dem alten Namen Radialsystem V. Oder man könnte in die Nachbarschaft des Hauses schauen.

Dorthin, wo früher Wildwuchs war, wo die Bar 25 Partypeople aus aller Welt anzog und heute der Holzmarkt neue Formen des Arbeitens, Wohnens und Kulturlebens verbindet, während ein Stück das Ufer entlang, Richtung Oberbaumbrücke, all die Konzernzentralen hochschießen, die das Bündnis „Mediaspree versenken!“ vor Zeiten zu verhindern versucht hat, auch das ein Kapitel aus der Reihe „Berlin im Fluss“.

So oder so, es wäre die Geschichte eines permanenten Wandels. Das Radialsystem V ist ein Ort, der schon mit seiner offenen Beton-Architektur für die Strahlkraft des Unfertigen steht. Weswegen das Jubiläumsprogramm zum 15. Geburtstag des Hauses nun auch „15 Years of Transformation“ betitelt ist. „Transformation“, sagt Matthias Mohr, seit 2018 künstlerischer Leiter, „ist zu unserer DNA geworden“.

Da war der Idealismus der Gründungsjahre, in denen Sandig und Uhde ihr Projekt ohne jede Förderung anschoben, mit nicht geringem privaten Risiko „Wir waren wahnsinnig damals“, sagt Sandig in der Rückschau. Kommerzielle Vermietungen – für Kongresse, Filmdrehs und ähnliches – sollten die Kunst finanzieren. Ein mutiges Modell, das nach einer Weile jedoch an Grenzen stieß. Entsprechend folgte, um 2012, die Phase der ökonomischen Stabilisierung, betrieben von Friederike Hofmeister (noch heute Geschäftsführerin des Radialsystems) und Janina Paul, mittlerweile Geschäftsführende Direktorin des Konzerthauses Berlin.

Der Fokus lag jetzt auf den Vermietungen, Auftritte von Sasha Waltz & Guests, Nico & The Navigators, dem Mahler Chamber Orchestra und anderen blieben „Leuchtturm-Momente“, so Mohr. Bis 2018 die nächste Wende kam: Das Land Berlin erwarb die Immobilie vom Eigentümer zurück. Und erstmals erhielt das Radialsystem V eine infrastrukturelle Förderung, die es zumindest ermöglicht, Teile des Jahres ganz der Kultur zu widmen.

Inkubator für Denkanstöße

„New space for the arts in Berlin“ – so lautete 2006 das Antrittsmotto. Später wurde daraus: „Space for arts and ideas“. Tatsächlich hat sich das Radialsystem V mit seiner Zwischengröße von 300 bis 400 Plätzen nicht nur als Wegbeschleuniger für Künstler:innen auf dem Sprung bewährt, sondern auch als Inkubator für weiterführende Denkanstöße. Unter anderem ist hier die „Koalition der freien Szene“ geboren worden, an der die Berliner Kulturpolitik sehr schnell nicht mehr vorbeikam.

Daran erinnert sich Jochen Sandig ebenso gern wie an zahllose Anekdoten aus 15 Jahren. Ein Gastspiel des Mahler Chamber Orchestras etwa, bei dem die Sopranistin Melena Ernman mitwirkte, begleitet von ihrer Tochter in der Garderobe, richtig, Greta Thunberg. Lange vor „Fridays for future“ war das.

[„15 Years of Transformation“: 10. bis 12. September]

Jochen Sandig hat unterdessen (ebenso wie Mitgründer Folkert Uhde) seine Gesellschafteranteile fast vollständig an die gemeinnützige Radial-Stiftung abgegeben, die das Haus trägt. Aber er bleibt ihm natürlich trotzdem verbunden, allein schon in seiner Funktion als Co-Leiter von Sasha Waltz & Guests. Die Compagnie mit Heimatbasis Radialsystem V ist selbst ein gutes Beispiel für Veränderungskraft.

Unlängst zu bestaunen, als der amerikanische Regisseur Andrew Schneider, der nie zuvor mit Tänzer:innen gearbeitet hatte, die Inszenierung „Remains“ zur neuerlichen Premiere nach Corona-Pause brachte. „Remains“ ist ein brillanter Abend über Körper, Raum und Zeit, über die Existenz als Folge von vergehenden Momenten, die uns ins Nichts reißen, nur damit wir uns im nächsten Augenblick wiederfinden.

Ein technisches Meisterstück aus bildgewaltigen Schlaglichtern, ein präzises Spiel mit Schemen und Schärfen – in dem nicht zuletzt die Tänzer:innen von Sasha Waltz und Guests sich ganz neu zeigen konnten, als virtuose Performer:innen.

Aufbrechen von Konventionen

Das Jubiläumsprogramm „15 Years of Transformation“ setzt nun vor allem auf Vielstimmigkeit. Den aus der Musik entliehenen Begriff der Polyphonie wünscht sich Matthias Mohr auch für die Kultur: „ein sich widersprechendes Miteinander“, die Gemeinsamkeit des Gegensätzlichen. Das Trickster Orchestra führt (in Kooperation mit dem Festival Studio Bosporus) das poetische Konzert „Divan 2.0: TransPositionen zwischen Lyrik und Musik“ auf.

Die Journalistin Khuê Pham liest aus ihrem Debütroman „Wo auch immer ihr seid“, der von der eigenen Familiengeschichte inspiriert ist. Sasha Waltz & Guests treffen sich mit dem Gitarristen Adel Sabawi und dem Tänzer Medhat Aldaabal zum Dabke auf der Wiese vor dem Radialsystem V, dem Kreistanz aus dem Nahen Osten. Diskutiert wird über „Bühnen von Morgen“. Und in der Konzertreihe „Outernational“ ist das Programm „Isles & Rivers“ zu erleben.

In „Outernational“ steckt viel von Mohrs kuratorischer Philosophie. Die Reihe unternimmt den Versuch, „Kunstmusik noch einmal ganz anders zu betrachten als aus eurozentrischer Perspektive“, unseren schon fetischisierten Kanon zu weiten. Mohr erinnert sich noch daran, dass in seinem Antrittsjahr am Radialsystem V, 2018, über Berlin verteilt gleich vier Mal die „Zauberflöte“ zu erleben war.

Am Aufbruch solcher Konvention arbeitet das Haus an der Spree ja ebenfalls seit den Anfangstagen. Derweil ist fraglich, was die Zukunft bringt. Über Programmmittel verfügt das Radialsystem V nach wie vor nicht. Ob sich das pandemiebedingt zum Erliegen gekommene Vermietungsgeschäft erholt, bleibt abzuwarten.

Vielleicht steht ja einfach die nächste Phase der Transformation an. Auch hier passt, was Jochen Sandig über die Gründung des Radialsystems V sagt: „Wir haben einen Raum verändert – und zugleich einen Raum für Veränderung geschaffen“.

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