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Petrit Halilaj und Alvaro Urbano zeigen zusammen mit Annette Frick „Die Blüten von Berlin“.

© Andrea Rossetti, Courtesy of the artists and ChertLüdde/VG Bildkunst Bonn 2022

Neue Location für die Galerie ChertLüdde: Aus dem Kostümladen ist ein White Cube geworden

Konfetti auf dem Boden, abgelöste Tapeten als Bilder an den Wänden: Die erste Ausstellung erinnert an die alten Zeiten von Deko Behrendt.

Es bewegt sich wieder was in Berlins Galerienszene. Diesmal ziehen ChertLüdde um, die in den letzten 14 Jahren ihr Quartier in Kreuzberg hatten. Der Ortswechsel zum Kaiser-Wilhelm-Platz, dort wo die Hauptstraße einen leichten Knick gen Süden macht, markiert nicht nur ein weiteres Vorrücken der Galerienszene die Potsdamer Straße runter. Er stellt auch einen Gentrifizierungsschub für die raue Ecke dar, die sich zwischen Feinkost und Kebab noch nicht entschieden hat.

ChertLüdde beziehen allerdings ein Herzstück Schönebergs, den ehemaligen Laden von Deko Behrendt, der 2021 nach knapp 60 Jahren wegen Covid-19 schließen musste. In Corona-Zeiten war niemandem mehr nach Party. Ein Traum war ausgeträumt, denn in dem vollgestopften Geschäft, in dem sich Kostüme, Masken, Stoffe und karnevalistische Requisiten in den Regalen nur so stapelten, fand sich für jeden Verkleidungslustigen etwas – und sei es für Neugierige auch nur ein Blick in den legendären Laden.

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Vor diesem Mythos verbeugen sich die beiden Galeristen Jennifer Chert und Florian Lüdde mit ihrer ersten Ausstellung unter dem Titel „Die Blüten von Berlin“. Petrit Halilaj, mit dem Chert damals noch ohne Lüdde an ihrer Seite die Galerie eröffnete, gelingt zusammen mit seinem Partner Alvaro Urbano eine hinreißende Hommage.

Ihre gigantischen Blumen aus Stahl und Stoff (ab 40 000 €), ein Hochzeitsbouquet, das sich das Künstlerpaar zur Eheschließung selber machte, war bereits im Madrider Kristallpalast und in Pristina zu sehen. In Berlin knüpfen sie damit ans queere Erbe der Nachbarschaft an. Unweit, ebenfalls an der Hauptstraße befindet sich die legendäre Kneipe „Anderes Ufer“.

Halilaj und Urbano machen es wie die Pariser Affichisten

Halilaj und Urbano betätigen sich am neuen Ort als Archäologen. Das Bild der Zeitschichten haben sie wörtlich genommen. Das Duo sezierte großformatige Rechtecke aus den zentimeterdick übereinander geklebten Tapeten, die nun wie minimalistische Gemälde in Blau, Pink und Gold wirken, wären da nicht die Rändern der unteren Lagen (ab 14 000 €).

Die Technik ist von den Pariser Affichisten bekannt, den Plakatabreißern, die in den 1960ern mit diesen Realien aus dem Straßenbild das Leben in die Galerien reinholten. Bei Halilaj und Urbano verhält es sich genau umgekehrt. Sie vollziehen einen konservatorischer Akt, bei dem vom Chaos des früheren Verkleidungsladens nur noch Coolness bleibt.

Draußen an der Markise gibt es noch den Schriftzug von Deko Behrendt

Das ist der Tribut an den White Cube, der hier nun entstanden ist. ChertLüdde wollen aber auch nach der Eröffnungsausstellung an die Vorgeschichte erinnern. Im Eingangsraum, der mit einem Büchertisch Passanten zum Eintreten verlocken soll, befindet sich an der rechten Wand ein Foto aus den 1950er Jahren des Ladens, als die Masken noch aus Pappmaché waren.

Auch den Schriftzug Deko Behrendt gibt es draußen an der Markise noch. Florian Lüdde betont, dass jeder willkommen sei: Durchs Schaufenster lässt sich reinschauen, eine Klingel wie zuvor in Kreuzberg gibt es nicht.

Mal schauen, wer da hereingeweht wird, ähnlich wie die bunten Papierfetzen, die wie übergroße Konfetti in den Ecken der langgestreckten Galerie liegen geblieben sind. Und noch etwas widersetzt sich der Coolness der konservierten Tapetenstücke: Annette Fricks Fotografien von Drag Queens (ab 3000 €).

Seit den 1990er Jahren fotografiert Frick Drag Queens in Berlin

Die Künstlerin kam in den 1990ern aus dem Rheinland nach Berlin und fotografierte seitdem immer wieder Protagonistinnen der Community: Tima, die Göttliche, Miss Debbie, Boeuff Stroganoff, Ovo Maltine, die sich bei Deko Behrendt gerne mit Pailletten und Glitzer für ihre selbstgenähten Kostüme eindeckten. Zu den schönsten Bildern gehören die beiden Aufnahmen von Tima und Debbie kurz vor ihrem Auftritt im „Flax“ in Prenzlauer Berg. Die eine legt der anderen einen Schmuck um den Hals und schließt dann am Rücken den Reißverschluss vom Kleid, ein intimer, prickelnder Moment.

Ausstellung und Ort leben von diesen Widersprüchlichkeiten. Wer ganz hinten um die Ecke biegt, erlebt die nächste Überraschung: der „Bungalow“ genannte Raum für Nachwuchskünstler:innen, den es auch schon in Kreuzberg gab. Die Installation „Les tirés ailleurs“ der senegalesisch-italienischen Künstlerin Binta Diaw ist eine veritable Neuentdeckung.

Binta Diaw erinnert an die rekrutierten Senegalesen

Die gefurchte Erde auf dem Boden erinnert an das Schicksal der für die französische Armee rekrutierten senegalesischen Soldaten, die 1944 zu Opfern eines Massakers wurden. Den Überlebenden der Truppe wurde nach ihrer Heimkehr der Sold nie ausgezahlt, ein dunkles Kapitel der französischen Kolonialgeschichte.

[ChertLüdde, Hauptstr. 18, bis 23.4.; Di bis Sa 12-18 Uhr.]

Die nächste Tür führt auch schon in den Hinterhof, eine echte Berliner Idylle mit Mülltonnen, Rädern und einem steinernen Engel, der die Zeitläufte überstanden hat. Einst befand sich in dem 1903 erbauten Haus ein „Damenheim“, das in der Kaiserzeit ausschließlich von alleinstehenden vermögenden Damen und „höheren Töchtern“ bewohnt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht für eine der nächsten Ausstellungen.

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