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Reformpädagogin oder Forscherin? Maria Montessori (Jasmine Trinca) möchte allen Kindern eine Bildungschance ermöglichen.

© Neue Visionen Filmverleih

„Maria Montessori“ im Kino: Ein Herz für die besonderen Kinder

Léa Todorov hat die Lebensgeschichte von Maria Montessori verfilmt. Allerdings idealisiert sie das Bild der italienischen Reformpädagogin unnötigerweise.

Von Kerstin Decker

Man könnte die kleine Szene leicht übersehen: Auf dem kurzen Weg vom Wagen zum Haus wirft die Mutter ihrer Tochter ein Tuch über den Kopf. Nicht, um sie zu schützen, sondern damit keiner ihr Gesicht sieht, das sein Anderssein nicht verbergen kann. Die Mutter selbst erträgt den Anblick ihres missgebildeten Kindes am wenigsten. Das musste sie bislang auch nicht, Tina wuchs bei ihrer Großmutter auf.

Aber was heißt aufwachsen? Richtiger wäre wohl: Sie war bei ihrer Großmutter versteckt. Einsperren und Verstecken. Das schien lange Zeit die einzige Form des Umgangs mit solchen Kindern. Sie galten als Schande für ihre Familien. Sahen sie schon nicht aus wie Ebenbilder Gottes, so fehlte ihnen augenscheinlich genau der Funke Verstand, der für diese Ebenbildlichkeit steht. Sie waren menschliche Tiere, „Missgeburten“ eben.

Bildmächtige Fin-de-siecle-Szenerien

Maria Montessori, Jahrgang 1870, gehörte zu den ersten Frauen, die in Italien gegen viele Widerstände studierten. Zuerst Naturwissenschaften, weil zum Medizinstudium nur Männer zugelassen waren, aber dann gelang der Wechsel doch. Noch als Studentin arbeitete sie in einer psychiatrischen Klinik und erschrak über die Bedingungen, unter denen Kinder wie Tina dort lebten.

In Léa Todorovs Filmbiografie tritt sie erstmals ins Bild, als Tinas Mutter versucht, sie in die Obhut der Scuola magistrale ortofrenica, des „Heilpädagogischen Instituts“ in Rom, zu geben, das Montessori zwei Jahre lang leitete. Im Film allerdings zusammen mit ihrem Kollegen Giuseppe Montesano, wobei nur er als Verantwortlicher gilt; Maria ist lediglich die (unbezahlte) Gehilfin.

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Dennoch ist sofort klar, wessen Projekt diese Scuola eigentlich ist. Und Tinas Mutter, die Pariser Edelkurtisane Lili d’Alengy, erfährt umgehend, dass ihr Plan, das unmögliche Kind irgendwo für immer abzugeben (Hauptsache, weit weg genug von Paris!), nicht aufgehen wird.

Die Verknüpfung der weitgehend authentischen Geschichte Maria Montessoris mit der fiktiven der französischen Halbweltdame ist kein übler Kunstgriff. Er setzt sofort eine ganz eigene, durchaus sehenswerte Dynamik frei in sehr bildmächtigen Fin-de-siecle-Szenerien. Jasmine Trinca als Maria Montessori und Leila Bekhti als Lili d’Alengy geben ihren Figuren alles.

Beide Frauen werden, anfangs überaus unfreiwillig, aneinander wachsen. Die Ärztin zwingt die Nicht-Mutter, in Rom zu bleiben – man sei kein Waisenhaus, sondern eine Lehranstalt –, später muss sie gar hospitieren. Plötzlich, von lauter Geschöpfen wie ihrer eigenen Tochter umgeben, flüchtet sich d’Alengy zum einzigen ihr vertrauten Gegenstand, dem Klavier. Und ein kleines Tanzwunder geschieht. Die Kinder reagieren auf die Musik.

Einsperren ist teurer als Bildung

Montessori bringt Tina (Raffaelle Sonneville-Caby) und die anderen sogar dazu, lesen und rechnen zu lernen, indem sie ihre Neugier weckt, auf Impulse reagiert. Die Abgesandten der Wissenschaft sind verblüfft, sie hatten diesen „wohlerzogenen Affen“, wie es einmal heißt, keinerlei Bildungsfähigkeit zugetraut und das Projekt nur genehmigt, weil lebenslanges Wegsperren teuer ist.

Maria Montessori (Jasmine Trinca) und Giuseppe Montesano (Raffaele Esposito) haben ein Geheimnis.
Maria Montessori (Jasmine Trinca) und Giuseppe Montesano (Raffaele Esposito) haben ein Geheimnis.

© Neue Visionen Filmverleih

Todorovs Blick auf die behinderten Kinder schönt nichts und ist eben darum überzeugend. Es ist auch berührend zu sehen, wie die Pariserin ganz allmählich ein Verhältnis zu ihrer Tochter gewinnt, was sich lange in der Paradoxie zusammenfasst: Wenn sie nicht da ist, fehlt sie mir. Wenn sie da ist, halte ich sie nicht aus.

Aber nicht nur die Französin führt ein Doppelleben. Denn die junge Wissenschaftlerin hat ein Kind mit ihrem Kollegen Montesano, das beide ebenso weggaben. Ein unverheiratetes Paar um 1900 kann kein Kind haben. Heirate mich!, lautet dessen einfache Lösung. Doch Montessori lehnt ab. Die Ehe sei kein Bündnis zwischen freien, gleichen Menschen. Sie bedeute Knechtschaft – für die Frau.

Die Mutter-Sohn-Geschichte wird zum Rahmen von „Maria Montessori“. Er beginnt mit dem endgültigen Verzicht auf ihren kleinen Sohn Mario, für den allein sie doch lebe – in allem, was sie unternehme. Das mag so gewesen sein, doch der allzu hohe Ton lässt aufmerken. Dass dieser Film die andere – oder soll man sagen: die wirkliche? – Maria Montessori, die nicht aus Mitgefühl, sondern vor allem aus kühlem Forschungsinteresse mit den „anormalen Kindern“ arbeitete, nicht einmal durchscheinen lässt, spricht gegen ihn.

Sie wollte ihre Grenzen erkennen. Diese Frau war Forscherin, nicht Mutter Theresa. Sie war ein Kind ihrer Forscher-Zeit, sie träumte vom „neuen Kind“, vom optimierten Kind. Dabei ist die „Befreiung der Kindheit“ höchstens ein schöner Kollateraleffekt.

Sabine Seichter hat mit „Der lange Schatten Maria Montessoris“ gerade ein Buch darüber veröffentlicht, mitsamt Rassismus- und Eugenikverdacht. Vielleicht ergeben Buch und Film zusammen ein Vexierbild, dass der wirkmächtigen Reformpädagogin am ehesten gerecht wird. Ihren Sohn Mario konnte sie erst zu sich nehmen, als er 15 Jahre alt war. Sie gab ihn als Neffen aus. Heute gibt es allein in Deutschland 600 Montessori-Kindergärten und 400 Montessori-Schulen. 

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