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Die französische Autroin Maria Borrély.

© Kanon Verlag

Maria Borrélys Roman: „Mistral“: Über das Wetter lässt sich auch in Büchern gut reden

Eine Wiederentdeckung: Maria Borrélys erstmals 1930 in Frankreich erschienener Debütroman gibt es jetzt einer Neuübersetzung.

Über das Wetter lässt sich auch in Büchern immer gut reden. Gerade in älteren Romanen ist es aber mehr als Konversationsstoff oder Kulisse, es hat oft etwas Prophetisches und wird zu einem handlungstragenden Element der Geschichte. In Friedrich Christian Delius‘ fröhlicher Wissenschaftsschrift „Der Held und sein Wetter“ kann man zum Beispiel etwas über den ideologischen Einsatz bestimmter Wetterphänomene im bürgerlichen Roman lernen.

Bei der französischen Schriftstellerin Maria Borrély spielt das Wetter eine Hauptrolle, keine ideologische allerdings, sondern eine existenzielle. Genauer gesagt: Hier ist es der Wind, der all ihre Figuren ein bisschen kirre macht. Kalt und schneidend ist der Mistral, jener erbarmungslose Meister, der durch Südfrankreich fegt. Als würde er die Sterne auspusten, heißt es einmal, als habe er die Gewalt eines Totschlägers, sagen sie in der Provence. Er bläst an manchen Tagen ohne Unterlass. „Wie Stöße mit dem Hobel, meint man, hastig, wütend, ein Starrsinn, die Erde bis auf die Knochen abraspeln zu wollen.“

„Sous le vent“, was wörtlich übersetzt „Leeseite“ heißt, die vom Wind abgewandte Seite, erschien erstmals 1930. Es war das Debüt der damals 40-jährigen, in Marseille geborenen Maria Borrély. Amelie Thomas Neuübersetzung trägt den schlichten Titel „Mistral“, wir wissen gleich, was gemeint ist, etwas Aufbrausendes und Unbändiges.

„Mistral“ ist ein Gemälde in allen Farben und Schattierungen

Aber Borrély weiß einiges mehr über diesen provenzalischen Wind, mehr auch als alle Meteorologen; sie versteht ihn nämlich zu malen und zu besingen, sie macht aus ihm selbst ein Instrument, wenn sich sein Wüten in „Rohr- und Flötenklänge“ verwandelt, wenn er sich in den Bäumen teilt, darin verliert und „zerrinnt zu Musik“. In den Pinien singe er „tief wie eine schöne Orgel, in den großen Eichen rauscht er wie ein Gebirgsbach“. So geht es weiter, und man denkt, so schön hat selten jemand hingehört, wenn der Wind einem das Haar zerzaust.

„Mistral“ ist hierzulande eine wirkliche Wiederentdeckung, die wir der Provence-Liebhaberin Amelie Thoma zu verdanken haben. Aber auch in Frankreich scheint Borrély außer in den kleinen Städten, in denen sie lebte, kaum noch präsent. Seinerzeit hatte das Buch einflussreiche Bewunderer, Jean Giono etwa oder André Gide, der es für ein Gemälde hielt, an dem ihn jeder einzelne Pinselstrich so sehr verzaubert habe, dass es ihn gar nicht mehr so sehr kümmerte, was es darstellen mochte.

„Sous le vent“ erschien im großen Verlag Gallimard, aber wie so viele erinnerungswürdige Werke, geriet auch dieses in Vergessenheit. Thoma schildert in ihrem bereichernden Nachwort den Lebensweg Borrélys, von der reformpädagogischen Lehrerin in der Provinz über die Kommunistin und spätere Sozialistin, Essayistin und Romanautorin, die mit ihrem Mann Ernest Bekanntschaft mit Jean Giono schloss, bis zur Widerstandskämpferin während des Zweiten Weltkriegs.

„Mistral“ ist tatsächlich ein Gemälde, in dem vor allem die Natur in eindrucksvollen Farben und Schattierungen aufs Papier gebracht wird. Ihre Figuren sind dieser Natur nicht ausgeliefert, aber von ihr geformt und ihren Rhythmen unterworfen. Marie, ein junges Bauernmädchen, ist in diese natürliche Ordnung, in das Dorf- und Familienleben geradezu unentrinnbar eingebunden. Gleich zu Anfang wird sie fast als Teil der Natur beschrieben: „Ihre Augen haben die Farbe des schönen wilden Lavandins. Die Bewegung ihrer Taille, ihrer Schultern, ist wie das Wiegen einer jungen Birke im Wind, dem sie mit der geschmeidigen Kraft ihrer Lenden standhält.“

Nun ist es so, dass ihr der Wind einen jungen Mann vor die Augen weht, und Marie kann und will ihn nicht mehr vergessen: Olivier erweckt in ihr eine Sehnsucht, die andere Verehrer nicht zu entfachen vermögen. Es kommt zu einem Kuss, der für Olivier eine flüchtige Episode auf dem Weg zu einer soliden Heirat bleibt; für Marie ist er allerdings der Beginn eines Traums.

Immense existentielle Wucht

Wie Borrély das Zerstieben dieser Träumerei inszeniert, wie die Leidenschaft als etwas Naturwüchsiges erscheint und der Betrug an der Hoffnung Maries wie eine Naturkatastrophe, das hat eine immense existentielle Wucht. Und dennoch wird die Desillusionierung ganz zart und leise geschildert, die gewiss übermächtigen Gefühlsregungen sind nur behutsam angedeutet, in den eindrucksvoll suggestiven Landschaftsschilderungen finden sie ihren Widerhall.

Vieles lässt Borrély in der Schwebe, und Amelie Thoma bewahrt in ihrer Übersetzung ein Feingefühl, das dem poetischen Geheimnis des Textes entspricht. Die Unausweichlichkeit von Maries Schicksal erinnert Thoma in ihrem Nachwort zurecht an eine antike Tragödie. Der Wind stoße ab und zu einen Seufzer aus, der ganz menschlich klinge, heißt es gegen Ende. Und ein paar Zeilen später hören wir Marie seufzen, und sie „hört in ihren Schläfen, im Brüllen und Wüten des Mistrals, Totenglocken anschwellen“. In alten Romanen hat nicht nur das Wetter Bedeutung. Man stirbt darin auch noch an der Liebe.

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