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Fenster auf! Die 48-jährige Léontine Meijer-van Mensch stammt aus den Niederlanden.

© David Pinzer

Léontine Meijer-van Mensch im Porträt: Steil im Windschatten

Wie können ethnologische Sammlungen heute funktionieren? Léontine Meijer-van Mensch, Direktorin der Völkerkundemuseen in Dresden, Leipzig und Hernhut, bringt frische Ideen in die Debatte.

Größer kann eine Einladung nicht ausfallen. Im Innenhof des Japanischen Palais, einem prachtvollen Barockbau in der Dresdner Neustadt, den August der Starke um 1730 für seine Porzellansammlung errichten ließ und der heute das Museum für Völkerkunde beherbergt, steht ringförmig ein riesiger Tisch aus grobem Holz. An ihm können Scharen Platz nehmen und ins Gespräch kommen.

Genau das hat Léontine Meijer-van Mensch im Sinn. Die seit 2019 amtierende Direktorin der Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Hernhut ist ein Kommunikationstalent. Sie versucht auf verschiedenen Wegen die Stadtgesellschaft in all ihren Gruppierungen ins Haus zu lotsen – Alte, Junge, Bildungsbürger, Geflüchtete. Ab Ende des Jahres soll hier das restaurierte Damaskuszimmer dauerhaft installiert werden als Teil einer neuen Willkommenskultur. Syrer:innen, die in Dresden leben, können darin ihre Geschichten erzählen.

Im Japanischen Palais greift eine neue Methodik, eine überraschende Auffassung vom Ethnologischen Museum, das breiter aufgestellt ist, auch Fragen des Sozialen verhandelt. Aber erst einmal gibt es draußen im Hof einen Kaffee aus dem hauseigenen Bistro, einem Null-Müll-Café, das von Ehrenamtlichen betrieben wird. Die Kräuter für die Limonade, das Gemüse für die Quiche stammen aus einem der vierzig Hochbeete, die ebenfalls im Innenhof stehen.

Hier läuft es anders als auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe, wo Zwinger, Albertinum, Brühlsche Terrassen und Frauenkirche die Touristen anziehen. Meijer-van Mensch gefällt gerade das. So kann sie im Windschatten leichter experimentieren, gewagter als das exponiertere Humboldt Forum in Berlin ausprobieren, wofür ein Ethnologisches Museum heute stehen könnte.

Auch im Leipziger Grassimuseum arbeitet sie unorthodox: Mit „German Dream“ warf sie einen ethnologischen Blick auf die Deutschen, mit „Re:Orient“ zeigte sie die umgekehrte Perspektive der muslimischen „Anderen“. Monatlich wird zum Austausch in die „Woonkamer“ eingeladen (nur aktuell nicht wegen Corona), wo jeder, wie zuhause, mitreden darf; den Begriff hat die gebürtige Holländerin aus den Niederlanden importiert.

Die erste Schau ist gleich ein Schwergewicht

Mit ihrer ersten großen Dresdner Wechselausstellung „Sprachlosigkeit – Das laute Verstummen“ aber hat sich Léontine Meijer-van Mensch gleich an ein Schwergewicht herangewagt: die Auseinandersetzung mit kollektiven Traumata – Krieg, Genozid, Verfolgung und Vertreibung. Die Karte ist groß: Der Genozid an den Armeniern kommt vor, die Shoah, der deutsche Kolonialismus, die Massaker von Indonesien von 1965, ja sogar die Folgen der Wende, der Fall der deutsch- deutschen Mauer werden verhandelt.

Dass sie furchtlos ist, hat die Museumsfrau, die zuletzt als Programm- und stellvertretende Direktorin am Jüdischen Museum in Berlin wirkte, bereits im vergangenen Jahr an ihrer Leipziger Spielstätte bewiesen. Dort ließ sie den Documenta-Teilnehmer Emeka Ogboh Plakate mit dem roten Schriftzug „Vermisst“ an Bushaltestellen in der Stadt anbringen; darauf abgebildet waren Benin-Bronzen. Das befeuerte noch einmal die Debatte um die Restitution.

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Die Benin-Kollektion des Grassimuseums und des Dresdner Hauses umfasst 301 Objekten, 246 können dem Kontext Raubkunst zugeordnet werden. Damit stehen die sächsischen Sammlungen gleich hinter dem Ethnologischen Museum im Humboldt Forum mit seinen 530 Objekten. Eine so mutige Aktion wie die von Emeka Ogboh aber haben sich die Berliner noch nicht getraut. Für nächstes Jahr hat sich die Museumschefin vorgenommen, Benin-Bronzegießer nach Dresden einzuladen und sie mit Kollegen vor Ort zusammenzubringen. Handwerk, Klimaveränderung – das seien für Sachsen weitere wichtige Themen, sagt sie.

Warten auf Wiedergutmachung. In der Ausstellung „Sprachlosigkeit“ im Völkerkundemuseum Dresden ist ein Raum den „Trostfrauen“ gewidmet, die im Zweiten Weltkrieg von japanischen Soldaten im Bordell zu Sexarbeit gezwungen wurden.
Warten auf Wiedergutmachung. In der Ausstellung „Sprachlosigkeit“ im Völkerkundemuseum Dresden ist ein Raum den „Trostfrauen“ gewidmet, die im Zweiten Weltkrieg von japanischen Soldaten im Bordell zu Sexarbeit gezwungen wurden.

© David Pinzer

Mit ihrem Dresdner Aufschlag zum Thema Sprachlosigkeit versucht Léontine Meijer-van Mensch nun einen weiteren ungewöhnlichen Ansatz. Die Ausstellung will auf zwei Stockwerken des Japanischen Palais herausfinden, wie Gesellschaften nach Verlust- und Gewalterfahrungen das Verstummen überwinden. Meijer-van Mensch schlägt zunächst den Weg über die Poesie ein; ein Gedicht Paul Celans eröffnet den Parcours.

Vom Jüdischen Museum in Berlin entlieh sie dazu Schwarzweiß-Fotografien zweier Dresdner Schwestern: Die eine konnte während des Nationalsozialismus in die USA entfliehen, die andere wurde in Auschwitz ermordet. Über ihr Schicksal und das vieler anderer Mitbürger:innen jüdischer Herkunft sprach man nach dem Krieg in Dresden nur wenig.

[Japanisches Palais, Dresden, bis 1. August; Di bis So, 10 – 18 Uhr.]

Um den Zugang möglichst niedrigschwellig zu halten, radeln Freiwillige mit Lastenfahrrädern – eine weitere Reminiszenz an die holländische Herkunft der Direktorin – am Elbufer auf und ab, verteilen Prospekte und versuchen ins Gespräch zu kommen. In einem Rollstuhl wird die Skulptur einer sitzenden „Trostfrau“ mitgeschoben, die ansonsten in der Ausstellung platziert ist.

Die Fragen kommen automatisch nach der Geschichte der Figur, dann nach dem Schicksal der zu Zehntausenden für japanische Bordelle im Zweiten Weltkrieg zwangsprostituierten Mädchen und Frauen. Die Hintergründe werden im Museum erzählt. Erst spät überwanden die Überlebenden ihre Scham und machten das Verbrechen öffentlich. Auf finanzielle Entschädigung warten sie bis heute.

Das Museum sucht nach Antwort

Aber auch das Museum hat seine ungute Geschichte, die es nur verhalten preisgibt – aus Respekt gegenüber den Nachfahren der Ovaherero und Nama. Die fünf Fotoalben des 1900 ins heutige Namibia entsandten Offiziers Georg Ludwig Rudolf Maercker, in denen er ebenso von Grausamkeiten gegen die Bevölkerung berichtet wie von seinen privaten Reisen, bleiben demonstrativ geschlossen, um die ausgeübte Gewalt nicht zu zeigen, die Gefühle Schwarzer Menschen nicht zu verletzen.

„Wie können wir als Museum mit dem kolonial-rassistischen Erbe umgehen?“, steht quer auf der Vitrinenscheibe. „Wie können wir darüber reden?“ Das Museum sucht selbst nach Antwort. Maerckers Alben sowie ein mitgebrachtes Stirnband sind Teil der Sammlung.

An anderer Stelle ist die 48-jährige Museologin schon weiter: Die ebenfalls ausgestellten Jagdrequisiten der Kaurna – Schlagstock, Rindenschäler, Netz, Speer und Schild – sollen demnächst nach Australien zurückgehen. Ein Dokument berichtet über den Stand der Verhandlungen mit Nachfahren des Aborigine-Stamms, dem sie einst gehörten. Léontine Meijer-van Mensch will hier mehr leisten als Restitution, sie hat sich „Reparation“ vorgenommen, denn die Verantwortung bleibt.

Ihr Haus wird die in Adelaide-City geplante Ausstellung nach der Rückgabe der Exponate weiter begleiten, finanziell unterstützen. Die Kaurna gehören nun fest zu ihrem Netzwerk. „Wir sind mit vielen in der Welt verbunden“, sagt die Direktorin.

Die Menschen mitnehmen

Aus den Niederlanden, die sehr viel länger als das Deutsche Reich Kolonien in Übersee unterhielten, kennt die Holländerin die Debatte nur zu gut. „Dort ist die Szene schon länger im Aufbruch“, sagt sie. Die Berufung der streitbaren Museumsfrau auf den Triple-Posten Leipzig, Dresden, Hernhut 2019 hatte Signalcharakter. Nicht von ungefähr wurde ihre Institution zusammen mit dem Lindenmuseum in Stuttgart und dem MARKK in Hamburg in ein Förderprojekt der Kulturstiftung des Bundes aufgenommen. Gemeinsam bilden sie einen Thinktank für die künftigen Aufgaben von Ethnologischen Museen.

Der verordnete Aufbruch wird sich auch im künftigen Namen der sächsischen Sammlungen niederschlagen; als eines der letzten trägt das Museum noch immer die Bezeichnung Völkerkunde im Titel. „Jedenfalls soll es nicht Weltkulturenmuseum heißen“, da ist sich Meijer-van Mensch sicher. „Ich will wegkommen von den universalistischen Begrifflichkeiten.“

Eigentlich sollte auf der Leipziger Buchmesse im Frühjahr ein öffentliches Nachdenken über mögliche inklusive, antirassistische Bezeichnungen beginnen. Durch Corona kam es anders, die Namenssuche steht noch aus. Ende 2023 soll er gefunden sein. Vielleicht bleibt der Terminus Völkerkunde sogar erhalten, nur in gebrochener Form, denkt Léontine Meijer-van Mensch laut nach. Für sie steht fest: „Ich muss die Menschen mitnehmen, es darf nicht von außen aufgesetzt sein.“ Als Holländerin wird sie noch schneller als Wessi kategorisiert, das macht es nicht einfacher.

Dass sie es ernst meint, hat man in Dresden längst begriffen. Als Mitte letzten Jahres Querelen das Karl-May-Museum in Radebeul erschütterten, stieg sie in den Stiftungsvorstand ein. Dort bringt sie nun ihre ethnologische Perspektive ein, vermittelt beim Umgang mit völkerkundlichen Objekten und konnte dafür sorgen, dass ein Skalp in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Ihre Energie scheint unerschöpflich zu sein, schließlich gibt es noch drei eigene Häuser zu betreuen. „Ich könnte im Wohnwagen leben“, scherzt sie über ihr permanentes Unterwegssein zwischen Dresden, Leipzig und Hernhut.

Meijer-van Mensch packt es an. Und doch weiß sie: „Es wird nie wieder alles gut.“ Der Ausspruch des Berliner Publizisten Max Czollek prangt als Neonschrift in ihrer Dresdner Ausstellung. Abhalten kann sie das nicht.

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