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Den Tatsachen ins Auge sehen. Birgit Brenner, Künstlerin.

© Birgit Brenner/Otto Felber

Künstlerin Birgit Brenner reflektiert Krisen der Zeit: Bilder in die Welt werfen

Die sogenannte Weltuntergangsuhr steht seit Jahren auf kurz vor Mitternacht. Birgit Brenner verarbeitet diese Erkenntnis mit beißender Lakonie. Eine Begegnung.

Noch 100 Sekunden bis Mitternacht? Das klingt wie ein Silvestercountdown. Die Tänzerinnen und Tänzer, die Arme und Beine zu klickendem Elektrosound bewegen, sehen aber nicht wie Partypeople aus. Von Euphorie keine Spur.

An Ellenbogen und Wangen tragen sie rote Striche, die wie Fäden von Marionetten wirken. Die ferngesteuerten Teenies in Birgit Brenners Kurzfilm „Hundred Seconds to Midnight“ gleichen ferngesteuerten Traumtänzern, die von der Welt nicht wissen. Oder besser: nichts wissen wollen.

Die traurigen Teenies symbolisieren die Menschheit, die trotz Klimanotstand, Umweltzerstörung und kriegerischen Konflikten ignoriert, was die Stunde geschlagen hat und einfach wie bisher weitermacht. „Wir reparieren den Ist-Zustand, aber den Gegenentwurf kriegen wir nicht hin“, sagt Birgit Brenner. „Dieses Rumreparieren bringt mich zur Verzweiflung, denn damit ist es nicht mehr getan, und das weiß auch jeder.“

In ihrem dämmerigen Atelier im Erdgeschoss eines Schöneberger Altbaus dominieren an diesem Vormittag die animierten Bilder, die sie auf dem Rechner vorspielt. Eine Serie von Tuschebildern, die sie ab Januar analog oder online in Leipzig zeigt, wurde gerade abgeholt.

Andere Zeichnungen sind bündelweise in Pufffolie verpackt. Trotzdem hängt kein Gefühl von schöpferischer Pause in den Räumen. „Die habe ich nie“, sagt Brenner, „ich gehe jeden Tag ins Atelier“. Dass sie im Herbst mit dem Wolfsburger Kunstpreis ausgezeichnet wurde und dort – wie auch in der Villa Massimo in Rom – Arbeiten zeigt oder gezeigt hat und zudem ihr Künstlerbuch „Jemanden fragen“ erschien, ist für sie kein Grund, am Jahresende kürzerzutreten.

Gesellschaftliche Missstände und Ängste reflektieren

Birgit Brenner, Jahrgang 1964, ist UdK-Absolventin, war Meisterschülerin bei Rebecca Horn, schafft seit dreißig Jahren Installationen, Skulpturen, Zeichnungen und lehrt ihrerseits als Professorin für Installation an der Kunstakademie Stuttgart. Seit Oktober allerdings nur online. Auch in zwei Stunden wieder, wenn die Nachwuchskünstlerinnen und -künstler ihrer Installationsklasse den jeweiligen Projektstand zur Klassenausstellung 2021 vorstellen. Thema: Fakenews.

Denkfaulheit und dekorative Idyllen-Malerei ist Brenners Sache nicht. „Ich beschäftige mich nie mit richtig positiven Themen“, sagt die freundliche Frau und lächelt. „Kunst ist dazu da, Sachen auszudenken und nicht Wohnungen zu füllen.“

Oder dazu zwischenmenschliche und gesellschaftliche Missstände und Ängste zu reflektieren, so wie sie das in der Wolfsburger Ausstellung in drei Videofilmen und der zwölf Meter langen, tausend Kilo schweren Installation „Promises and Other Lies“ tut.

Das aus Stahl und Kunststoff gefertigte, aggressiv-fragile Zackengebilde ist vom expressionistischen Kino inspiriert, von „Metropolis“ und „Dr. Caligari“, und symbolisiert einen Abgesang auf jetziges Leben und kommendes Unheil.

Die Fragilität der Welt zeigen

Und als sei es mit den Endzeitszenarien nicht genug, wirft Brenner auf dem Rechner das jüngste in Stop-Motion-Technik aus Zeichnungen animierte Video an. „Final Call“ wird erstmals in Leipzig gezeigt. Bei verlängertem Lockdown womöglich gar auf einer LED-Wand vor ihrer Galerie Eigen+Art.

In farbenfroh getuschten Zeichnungen erzählt Brenner in ihrer Paraphrase der biblischen Schöpfungsgeschichte von einer Frau und einem Mann, die aus ihrem Mittelschichtsleben ins Urlaubsparadies flüchten. Zwar nur per Virtual Reality-Brille, aber nicht ohne den Hund vorher an der Straße auszusetzen.

Das ist ein Gag in beißender, für Brenner typischer Lakonie. Ebenso wie der Leberkäs mit Spiegelei, auf den Deutsche auch in den Tropen nicht verzichten mögen.

[Buch: Birgit Brenner „Jemanden fragen“, VfmK Wien, 184 S., 39 €. Ausstellungen: „Promise me“, Städtische Galerie Wolfsburg, bis 18. 7.; „Final Call“, 9. 1. (online) bis 20. 2., Galerie Eigen+Art Leipzig.]

Die zweite Erzählebene besteht aus einer mit elektronischen Störgeräuschen unterlegten Computerschrift. Das ist der Social-Bot der Frau und des Mannes, der deren Zukunftsängste und Existenzzweifel stets mit Wohlfühlgesülze wegzureden sucht. Künstliche Intelligenz, Robotik, Überwachungsstaat. Diese Themen gehören ebenfalls zu Brenners Weltuntergangsszenarien.

Gegen Ende von „Final Call (for useless biomass)“ sitzt ein Astronaut auf einem Stuhl. Allein mit sich auf dem Mars. „Keiner versteht, wie fragil wir und die Welt sind“, kommentiert Birgit Brenner und macht ihrem Ärger über Mars-Kolonisierungs-Projekte Luft. „Darum kümmern wir uns, während wir diesen Planeten ruinieren, statt ihn zu retten.“

Albtraumtänzer. Birgit Brenners in Stop-Motion animierter Film „Hundred Seconds to Midnight“ zeigt tanzende Menschen, die Marionetten gleichen.
Albtraumtänzer. Birgit Brenners in Stop-Motion animierter Film „Hundred Seconds to Midnight“ zeigt tanzende Menschen, die Marionetten gleichen.

© Otto Felber, Birgit Brenner, Galerie Eigen+Art Leipzig/Berlin,VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Der Ernst der Lage wurde ihr durch die „Doomsday Clock“ bewusst, auf die sie während ihrer Endzeit-Recherchen stieß. Diese Weltuntergangsuhr wurde 1947 von einem Wissenschafts-Bulletin eingerichtet, um die Gefahr einer globalen Katastrophe anzuzeigen und rechnet atomare Gefahren, aber auch die Klimakrise mit ein. Seit diesem Jahr steht sie auf hundert Sekunden vor Mitternacht.

„Wir sind so nah am Weltuntergang wie nie zuvor“, sagt Birgit Brenner und reagiert darauf in ihrer Kunst metaphorisch statt mit plumper Agitprop.

„Ich werfe Bilder in die Welt und sage, so könnte man die Dinge sehen.“ Dass Kunst Augen und Sinne öffnet, glaubt sie durchaus. Aber nicht daran, dass sie das Verhalten der Menschen direkt verändert. „Das wäre Sozialromantik.“

Die Ratlosigkeit und Agonie, die das Individuum angesichts der anstehenden existenziellen Herausforderung befällt, kleidet sie in lakonische Slogans. Im Künstlerbuch, das Installationen, viele Zeichnungen und die Film-Storyboards der vergangenen vier Jahre vereint, sind sie kreuz und quer verteilt: „Selbst schuld“, „Übermüdung und Überdruss“, „ I wish I had a vision“.

Das sind Stoßseufzer, die auch bestens zur Corona-Pandemie passen. Die ist allerdings noch nicht in Birgit Brenners Arbeit eingeflossen, sieht man mal vom Link zu Verschwörungstheorien und Propaganda-Sprüchen in den neuen Zeichnungen ab. „Ich bin lieber vor der Welle als auf der Welle“, sagt sie, und ergänzt, dass sie stets Zeit für längere Denkprozesse und Analysen benötige.

Die Pandemie hat Birgit Brenner in dem Jahr, das mit der Preisträgerschaft und dem Stipendium in der Villa Massimo eigentlich ein rauschendes werden sollte, gleich mehrere Ausstellungen verhagelt, die ausfielen, schließen mussten oder verschoben wurden. Trotzdem konnte sie dem Rom-Aufenthalt bis Juni im italienischen Lockdown auch Gutes abgewinnen: konzentriertes Arbeiten und den schönen Garten der Villa.

Ihre Prognose für die Menschheit ist pessimistisch

Für jeden ihrer bis zu 35 Minuten langen Filme, die sie seit 2019 als jüngste ihrer Ausdrucksformen bis hin zum Sound selbst fabriziert, benötigt sie Hunderte Zeichnungen. Darauf, sie zu animieren, kam sie, indem sie es einer Studentin empfahl.

„Plötzlich konnte ich komplexer erzählen und die Leute bleiben in den Ausstellungen dran kleben.“ Geschichten zeichnen, filmisch erzählen, das hat sie – auch in Vorbereitung ihrer Installationen – schon immer betrieben. Oft in Kombination mit Text. „Ich traue Bildern mehr als Wörtern, die sind archaischer als Text, von dem wir komplett umgeben sind.“ Text wiederum müsse eine kühle Rationalität haben, die das Bild nicht hat.

„Schöne Sätze“ heißt die Datei, in der Brenner im Internet oder von Passanten aufgeschnappte Sprüche sammelt, die vielleicht in ihre Kunst eingehen. Was sie zuletzt eingetragen hat? Brenner lacht. Ein Schlagwort aus einem Popsong: „Divide Yourself“, zerteile dich. Und „Neues aus der Zukunft“. Den hat sie sich selber ausgedacht. Was die Zukunftsaussichten der Spezies Mensch angeht, ist Brenner nicht sonderlich optimistisch. „Ich weiß es doch auch nicht“, seufzt die Künstlerin. Ja, wer weiß es schon. Doch nicht nur die Weltuntergangsuhr zeigt, dass immer weniger Zeit zum Nicht-Wissen bleibt. Wenn kommende Generationen sich später über die Menschen der Gegenwart und ihre Lebensweise beklagen, darf Birgit Brenner sich guten Gewissens zurücklehnen. Sie hat das Nötige gesagt.

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