zum Hauptinhalt
Alice Zadek mit ihrer Tochter Ruth und ihrem Neffen David Hopp auf der Stalinallee (Karl-Marx-Allee), Berlin ca. 1956

© Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Ruth Zadek, Foto: Gerhard Zadek

Karl-Marx-Allee: Neues Standardwerk über die „Magistrale der Moderne“

Irma Leinauer zeigt mit ihrer Dissertation, dass die Deutungshoheit über das größte Bauwerk der DDR im Osten liegt. Aus westlicher Perspektive erschien zum gleichen Thema das Coffee Table Book „DDR limited“.

Zu ihrer Bauzeit war man sich im Westen schnell einig. Die Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, war weniger das Werk des SED-Chefs und „Zonendiktators Walter Ulbricht (Der Tagesspiegel, 2. April 1963) als das Ergebnis sowjetischer Baukunst im sozialistischen „Zuckerbäckerstil“ – wiewohl hier zunächst eine moderne Gartenstadt in der Tradition der Bauhausarchitektur geplant war. Die erste sozialistische Straße gewiss, aber heute auch ein Denkmal ihrer selbst, eine verklärte Legende, mit Maß doch ohne emotionale Mitte, ohne Atmosphäre.

Was ist sie denn nun, was sollte sie sein? Wohnstraße oder der östliche Gegenentwurf zum Ku’damm, durchgestalteter Grünzug oder eine Hauptverkehrsstraße? Was verbindet man mit ihr, außer Aufmärschen, Paraden und Waffenschauen?

Berlins längstes Baudenkmal ist in vielen Büchern und Aufsätzen beschrieben worden. Zuletzt erschien das als bunt bebildertes Coffee Table Book angelegte (und von Immobilieninvestor Einar Skjerven mitverlegte) 200-Seiten-Werk „DDR limited – Über das Leben und Wohnen am Strausberger Platz, Karl-Marx-Allee in Ostberlin“ von Stephan Schilgen und André M. Wyst. Es lädt zum Blättern ein und zeigt einige der Wohnungen heute. Eine ist in Rosé gehalten, als habe sich eine fleischgewordene Barbie-Puppe mit ihrem Ken in die einstigen DDR-Vorzeigebauten verirrt und mit ihnen der gute Geschmack.

Diese 54-Quadratmeter-Wohnung am Strausberger Platz wurde von der Skjerven Group originalgetreu – mit modernem Mobiliar – wiederhergerichtet. Sie wurde im Sommer des Jahres 2023 für 420.000 Euro verkauft.

© SKJERVEN GROUP

Dagegen ist die soeben veröffentlichte – bisher umfangreichste wissenschaftliche – Arbeit zum 1959 bis 1969 absolvierten zweiten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee (zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz) ein Schwergewicht. Die im Lukas Verlag erscheinenden 600 Seiten für 60 Euro kommen spröde daher. Es ist eine Fleißarbeit, die sich Autorin Irma Leinauer für ihre Dissertation auferlegt hat. Mit 1949 Gramm erinnert sie als Monumentalwerk selbst an die Ausmaße der „Magistrale der Moderne“ (1949 wurde übrigens die Sowjetische Besatzungszone zur DDR ausgerufen).

Nur wenige Räume in der Karl-Marx-Allee sind originalgetreu erhalten. Dieses Badezimmer immerhin wurde den historischen Gegebenheiten nachempfunden.

© SKJERVEN GROUP

Es geht in dieser von der Hermann-Henselmann-Stiftung und dem Landesdenkmalamt Berlin unterstützten Monografie um die Planungs- und Baugeschichte der Karl-Marx-Allee II (KMA II), nicht um die Rezeption, nicht um ideologische Sichten und Schichten, nicht um die Bewohner und verdienten Genossen, deren Erinnerungen und Gefühle, die sich mit diesem Bau verbinden. Kurzum: Es geht nicht um das Leben, nicht um internationale Architekturdebatten über den modernen Städtebau. Das ist schade. Ging es in den Jahren nach 1949 in der Architektur nicht auch um den Wettstreit der Systeme?

Wohnhochhaus, parallel zur Stalinallee, Wohnseite nach Westen, Schaubild von Edgar-Walter Schumacher; Hermann Henselmann u. M., August 1958

© Lukas Verlag Berlin/Akademie der Künste/Hermann Henselmann Archiv

Wohngebiet an der Karl-Marx-Allee, Nordteil, Draufsicht nach Südwesten, im Vordergrund die Schule an der Berolinastraße, links „Hotel Berolina“, Anfang der 1970er Jahre 

© Lukas Verlag Berlin/Kadatz/Mura 1973

Ihre Recherche in den Archiven der Tageszeitungsverlage absolvierte die Autorin vor allem im früheren Ostteil der geteilten Stadt. Hier sind ihr das ND, das „Neue Deutschland“, und die „Berliner Zeitung“ das Nonplusultra, auch die „Tageszeitung“ taz lässt Irma Leinauer mit einigen Artikeln durchaus gelten, während Der Tagesspiegel als ehemaliger publizistischer Klassenfeind ignoriert wird.

Westdeutscher Stahl für die Stalinallee

Was mit Blick auf die in Rede stehende Straße schade ist. Rerum cognoscere causas, dem Ursprung der Dinge auf den Grund gehen: Wer weiß heute schon noch, dass „Westdeutscher Stahl für die Stalinallee“ eingesetzt wurde (Der Tagesspiegel, 6. Januar 1953)? Verdankt die heutige Karl-Marx-Allee ihre andauernde Stabilität gar dem ungeliebten Westen?

Architekt Werner Dutschke und seine Mitarbeiter:innen hinter dem überarbeiteten Modell auf dem Dach des Bürogebäudes Dircksenstraße 31 im Oktober 1958. Von links: Dieter Rogalla, Kurt Sadewasser, Günter Thielemann, Inge Flegel (Bauzeichnerin), Werner Dutschke, Hans Eichner, Käthe Helmis (Buchzeichnerin), Ulf Eltze (nicht im Bild: Reinhard Sonntag und Hermann Klauschke).  

© Lukas Verlag Berlin/Privatbestand Ulf Eltze, Foto Reinhard Sonntag 1958

Immerhin erhielten westliche Lieferfirmen von der „sowjetdeutschen Handelsgesellschaft Meletex den Auftrag, bis zu 10.000 Tonnen Eisen, mindestens aber 3000 Tonnen, für den Aufbau der Stalinallee zu beschaffen“. Fünfhundert Tonnen Moniereisen für den Betonbau „im Werte von fast einer Viertelmillion DM“ wurden 1951 illegal aus Westberlin in den sowjetischen Sektor der geteilten Stadt verschoben. Das Geschäft flog auf. Ein Gericht verurteilte Schieber Max K. zu einer Geldstrafe (3000 DM für 3000 zu liefernde Tonnen).

Solche (Zeit-)Geschichten sind in dem Wälzer nicht enthalten. Auch auf Querverweise zur literarischen Verarbeitung des Größten, was die DDR hervorgebracht hat, verzichtete die Autorin. So bleibt etwa Stefan Heyms – einst verbotener – Roman „Die Architekten“, 1963 bis 1966 verfasst, unerwähnt.

„Die Magistrale der Moderne“ wird aus einer dezidiert östlichen Perspektive beschrieben (Editorial: Ex-Kultursenator Thomas Flierl, Die Linke). Der in Ermangelung eines Stichwortverzeichnisses schwer zugängliche Band ist geschrieben aus der Innensicht der DDR, deren Planwerk er en détail ausbreitet. Die Entwicklung der an der Karl-Marx-Allee versammelten Bautypen wird aus der Perspektive der sozialistischen Länder, aus einem geschlossenen System heraus, betrachtet. Wenn es um Kontroversen geht, dann sind es die der DDR immanenten. Leinauers Fazit fällt mit zwei von 600 Seiten entsprechend übersichtlich aus.

Wer diesen Horizont gerne etwas erweitern möchte, findet Anregungen in dem erwähnten Band von Stephan Schilgen und André M. Wyst, der überaus lesenswerte Aufsätze und ein Interview mit der Enkelin des wohl schillerndsten Architekten der Stalinallee, Richard Paulick, enthält. Vor allem der in der früheren Stalinallee vorzufindende Stilmix wird hier schlüssig hergeleitet. Der Band ist aber keine Monografie der baugeschichtlichen Aspekte der Nachkriegsmoderne und als Lifestyle-Buch eher eine gute Ergänzung zur „Magistrale der Moderne“.

Zur Buchpremiere der „Magistrale der Moderne“ findet am 5. Oktober um 18.30 Uhr in der ehemaligen Bibliothek des Kinos International (Karl-Marx-Allee 33) bis 21 Uhr eine Diskussion mit der Autorin Irma Leinauer, Berlins ehemaliger Stadtentwickungssenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) und anderen statt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false