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Politische Filme auf der Berlinale: Kampf um die Würde

Häusliche Gewalt, moderne Sklaverei, Rebellion gegen die Obrigkeit: drei erschütternde Dramen aus Kasachstan und Usbekistan bei den Berliner Filmfestspielen.


Der erste Blick am Morgen gilt dem eigenen Spiegelbild. Sie ist eine Schönheit, sie kontrolliert, ob auch nichts zu sehen ist von den Prügeln des Ehemanns. Die Influencerin muss gut und glücklich aussehen, wenn sie den Kasachinnen die Kosmetik-Produktlinie „Happiness“ anpreist. Aber es wird immer schwerer, die Spuren der Gewalt zu kaschieren, wegzuschminken, wegzulächeln: „Bakyt/Happiness“ von Askar Uzabayev, ein Panorama-Film über häusliche Gewalt.

In der finsteren Behausung der Migrantinnen, die immer Moskauer Vorort-Supermarkt Produkty 24 arbeiten, herrscht immer Nacht. Eine schnelle traurige Hochzeit, eine Schwangerschaft, die Usbekin Mukhabat ackert zwischen neonbeleuchteten Regalen. Die Chefin kassiert Ausweise und Handys der Neuankömmlinge; wer zu fliehen versucht, wird grausam bestraft. Manchmal werden die jungen Frauen von betuchten Kunden im Hinterzimmer vergewaltigt. Michael Borodins Debütfilm „Produkty 24/Convenciene Store“, ebenfalls im Panorama: ein Film über moderne Sklaverei.

Auch Dichter kämpfen um ihre Rechte. Der junge Lyriker Didar arbeitet in einer Zeitung in Almaty, die Redakteure lamentieren über das Aussterben der Sprachen und der Poesie. Didar soll für einen wohlhabenden Firmenbesitzer dessen Familienchronik aufschreiben. Aber er studiert lieber die Verse des Poeten Makhambet Otemisaly, der 1846 in der kasachischen Steppe geköpft wurde, weil er sich dem Sultan nicht unterwarf und gegen das zaristische Regime rebellierte. „Akyn/Poet“ von Darezhan Omirbayev im Forum: eine Geschichte über den Freiheitskampf im Zarismus und in der heutigen Medienwelt.

Drei Filme auf der 72. Berlinale über Männergesellschaften, über Gewalt. In der Zeitungsredaktion in „Poet“ hocken ausschließlich Männer, für die Sekretärin haben sie nur Machoblicke übrig. Dindas Mutter, zu Besuch aus der Provinz, sitzt ratlos zappend vor dem Fernseher. Der Poet will sich dem Diktat der Verwertungsmaschinerie entziehen, aber um welchen Preis?

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In „Happiness“ ist zu sehen, wie tief das Obrigkeitsdenken und die Misogynie in der Historie verwurzelt sind. Die Frauen führen moderne Existenzen, verdienen eigenes Geld, haben mitunter sogar das Sagen, im Job, in der Justiz, in der Familie. Aber wenn der Gatte nach Hause kommt, sind sie ihm wehrlos ausgesetzt. Du bist schuld, was machst du mich wütend, sagt er. Der Tochter geht es in ihrer jungen Ehe nicht anders. Die Gerichte schauen weg, sind korrupt, die Schwägerin erkauft ihr Schweigen. In „Convenience Store“ stecken die Behörden mit der mafiösen Chefin unter einer Decke.

Als Influencerin, die Kosmetikprodukte bewirbt, muss die Heldin von "Happiness" (Laura Myrzakhmetova) die Spuren der häuslichen Gewalt kaschieren.

© 567 Production

Finstere Hölle. Die Migrantinnen in "Convenience Store" werden wie Arbeitssklavinnen gehalten.

© LLC Metrafilms

Eine Welt der Zurichtungen, der Staffage, Vertuschungen und Schweigekartelle. In Kasachstan ist Gewalt in der Ehe bis heute nicht ernsthaft strafbar. Zu den Aktivistinnen, die diese „Katastrophe“ (Regisseur Uzabayev) an die Öffentlichkeit gebracht haben, gehört die Produzentin des Films. Die Schauspielerin, Bloggerin und Musikproduzentin Bayan Maksatkyzy wurde von ihrem Mann so zugerichtet, dass sie es nur knapp überlebte. „Happiness“ ist auch ihre Geschichte.

„Convenience Store“ basiert ebenfalls auf wahren Begebenheiten: 2016 reichten Frauen aus Kasachstan und Usbekistan eine Klage beim Europäischen Gerichtshof ein, der Fall firmierte unter dem Namen „Golyanovo-Sklavinnen“. Golyanovo heißt der Moskauer Bezirk, in dem die entrechteten Migrantinnen schuften mussten.

Dindar (Yerdos Kanayev) will sich als Dichter nicht an den Kapitalismus verkaufen: Szene aus dem kasachischen Film "Poet".

© Kazhakfilm

Alle drei Filme haben ein politisches Anliegen, protestieren gegen schreiendes Unrecht. Gleichzeitig finden sie eine schlüssige Form für das Schicksal und die Konflikte ihrer Protagonist:innen. In „Poet“ kontaminiert die in Rückblenden aufscheinende ländliche Vergangenheit die Gegenwart der urbanen Shoppingmalls und Arbeitsverhältnisse. In „Happiness“ ist es das orangefarbene Kleid der Influencerin: Der Kontrast leuchtender Farben und wohl arrangierter Fassaden zur Düsternis der häuslichen Hölle durchzieht die gesamte Erzählung.

In „Convenience Store“ weicht die undurchdringliche Düsternis des Migranten-Wohnlochs in der zweiten Filmhälfte der sonnigen Helle der usbekischen Provinz.Der jungen Mukhabat gelingt die Flucht dorthin.

Wieder zu Hause, bei der kranken Mutter, verdingt sie sich bei der Baumwollernte, in einer gleißenden, wie überbelichteten Landschaft. Würde ist möglich, aber die Bürde der Armut macht sie erpressbar. Mukhabat kämpft trotzdem weiter, vor allem um ihr Baby, das die Moskauer Chefin als Geisel hält. Ein Happy-End gibt es nicht, nicht im Kino, nicht in der Realität des 21. Jahrhunderts.

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