zum Hauptinhalt
Kristina Sigunsdotter

© Johan Agorelius

Jugendroman über Pubertät: Ganz allein in der eigenen Galaxie

Neeles glaubt, dass sie der einsamste Mensch der Welt ist: Kristina Sigunsdotter erzählt eine dramatische Coming-of-Age-Geschichte.

Die Pubertät ist ein Zustand des Dazwischenseins. Die Kindheit endet, aber das Erwachsensein hat noch nicht richtig begonnen. Pubertierende fühlen sich nirgendwo zugehörig, ihr Alltag gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt. Eben noch in höchster Euphorie, stürzen sie gleich danach ab in finsterste Verzweiflung. Schuld sind die verrückt spielenden Hormone.

Neele Nilsson ist elf Jahre alt, geht in die 5c und stellt fest: „Mein Leben ist ziemlich gut, außer dass ich gerade Windpocken hatte.“ Klingt nach einem Eintrag in ein Poesiealbum und nicht nach dem Auftakt eines Tagebuchs, das Einblick in Seelenabgründe eröffnen soll.

Aber schon im nächsten Satz dementiert die Autorin ihr angebliches Wohlbefinden: „Vergiss, was ich eben geschrieben habe! Ab jetzt gilt Folgendes: Ich heiße Neele Nilsson, bin elf Jahre alt, und meine Leben ist eine KATASTROPHE.“ Das letzte Wort ist groß geschrieben, jeder Buchstabe ein Aufschrei. Wegen der Windpocken konnte Neele zwei Wochen nicht in die Schule und bei der Rückkehr wollte ihre beste Freundin Nour nichts mehr von ihr wissen. Sie hängt nun mit den „Pferdemädchen“ ab, Schülerinnen, die sich für nichts als Klamotten und Schminken interessieren und tatsächlich wiehernd über den Pausenhof galoppieren. Ein Verrat.

Die schwedische Schriftstellerin Kristina Sigunsdotter, die in ihrem Roman „Neele Nilssons Geheimnisse“ eine dramatische und teilweise überaus komische Coming-of-Age-Geschichte erzählt, vermag sich gut einzufühlen in die Stimmungsschwankungen ihrer Heldin. Vielleicht weil sie selbst einmal eine Außenseiterin war.

Neele fühlt sich wie abgekoppelt vom Rest der Welt, die Trennung von Nour macht ihr schwer zu schaffen. Von ihren Mitschülern wird sie als „Scheißerchen“ verspottet, weil sie sich in den Pausen auf die Toilette zurückzieht. Und ihre Eltern haben schon lange aufgehört danach zu fragen, wie es ihr geht. Die Mutter beginnt jedes Frühstück mit einem Seufzer, Neeles absolutem „Hass-Geräusch“.

[Alle Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.

Pubertät kann die Hölle sein, aber es gibt eine Rettung daraus: Kunst. Mit ihrer Tante Fanny hat Neele einmal alle Blumentöpfe und Bäume im Garten schwarz angemalt und das Werk dann „Tausend Jahre Schwarz“ genannt. Ihre Mutter war entsetzt und warf später auch die Skulpturen weg, die Neele aus Kaugummi zusammengeklebt hatte. Von Fanny, der Malerin, weiß Neele, was die „Wolfsstunde“ ist. Sie schlägt dann, „wenn man mitten in der Nacht aufwacht und nicht mehr einschlafen kann und einem alles falsch und traurig vorkommt“.

Die Tante verschwindet in der Psychiatrie

Dann hilft nur eins: rausgehen und verbotene Sachen machen, beispielsweise mit Wasser gefüllte Kondome von der Autobahnbrücke werfen. Kurz nachdem Fanny beim Sonntagsessen losgeschrieen und ihr Weinglas an die Wand gepfeffert hat, wird sie wegen einer akuten Depression in die Psychiatrie eingewiesen. Für sie ist dort immer Wolfsstunde. Neele setzt alles daran, ihrer Tante den „Lebensfunken“ zurückzugeben.

Ein Satz wie „Die Schule war kacke wie immer“ könnte auch in „Gregs Tagebuch“ stehen. Auch die Listen, in denen Neele „Geheimnisse, die ich bloß Nour erzählt habe“ oder „Psychische Krankheiten, die ich niemals haben will“ auflistet, und die kunstvoll krakeligen Illustrationen von Ester Eriksson erinnern an Jeff Kinneys Bestseller-Buchreihe.

[Kristina Sigunsdotter: Neele Nilssons Geheimnisse. Illustriert von Ester Eriksson. Aus dem Schwedischen von Franziska Hüther. Woow Books, Zürich 2022. 110 Seiten, 12 €. Ab 10 Jahre]

Aber Sigunsdotter, die für „Neele Nilssons Geheimnisse“ den schwedischen August-Preis bekam, gelingt es immer wieder, die Gefühlslagen ihrer Protagonistin in poetisch funkelnde Metaphern zu fassen. Auf dem Höhepunkt ihrer Niedergeschlagenheit glaubt Neele ihr Herz würde „zu Kartoffelbreipulver zerbröseln“ und sie würde sich in „ein großes Aquarium voller Tränen“ verwandeln.

Haben nicht alle Teenager das Gefühl, Außerirdische zu sein, allein unterwegs in ihrer eigenen Galaxie? Keine Freunde, in der Schule gemobbt und zuhause unverstanden: Niemand, glaubt Neele, könne einsamer sein als sie. Doch ausgerechnet die verhasste Klassenfahrt wird zum Wendepunkt. Tränen trocknen, auch ein Herz lässt sich heilen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false