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Die U-Bahn von Seoul ist ein Schauplatz des Romans.

© Kim Hong-Ji/Reuters

Jugendbuch aus Südkorea: Aliens wie wir

Outsider in Seoul: In ihrem Bildungsroman „Eins – zwei. Eins – zwei – drei“ erzählt Kim Ryeo-Ryeong von einer Menagerie merkwürdiger Menschen.

Das Leben gleicht manchmal einem Boxkampf. Dann kommt es darauf an, auch harte Schläge einstecken zu können. Aber, fragt sich Wan-Duk, ist es nicht vielleicht die bessere Taktik, „Schlägen gut auszuweichen und erst gar nicht getroffen zu werden?“. „Bobbing and Weaving“ heißt die Technik, die er beim Kickbox-Training erlernt. Kopf einziehen und zurückschlagen. „Eins – zwei, eins – zwei – drei“, zählt er still mit, wenn er abwechselnd mit einer rechten und linken Geraden auf den Sandsack einprügelt.

Instantreis als Grundnahrungsmittel

Wan-Duk ist der Held von „Eins zwei. Eins zwei drei“, des Debütromans der südkoreanischen Schriftstellerin Kim Ryeo-Ryeong. Er hat schon einiges einstecken müssen in seinem 17-jährigen Leben. Die Mutter hat ihn bald nach der Geburt verlassen. In der Schule ist er ein Außenseiter, gemobbt von den anderen. Er wohnt mit seinem Vater in einem Hochhaus am Stadtrand von Seoul. Genauer gesagt: auf dem Hochhaus. Nachdem sie sich ihr Apartment in einem der unteren Stockwerke nicht mehr leisten konnten, sind Vater und Sohn in einen Betonbau auf dem Dach gezogen. Und weil die Sozialhilfe meist knapp ist, gibt es hauptsächlich Instantreis zu essen.

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Klingt nach einem bekümmernden Sozialdrama, aber „Eins zwei. Eins zwei drei“ gehört eher ins Fach Komödie. Der Tonfall ist übermütig, der Plot schlägt ständig Haken. Das fängt mit Wan-Duk an, der ein höchst unzuverlässiger Erzähler ist. Er behauptet, aus dem Gangstermilieu zu stammen und keiner Schlägerei aus dem Weg zu gehen. Beides schwer geflunkert. Sein Vater will, dass aus dem Jungen mal etwas Besseres wird. Er soll studieren und als Schriftsteller möglichst den Nobelpreis holen. Wan-Duk kokettiert ständig damit, noch keine Zeile für seinen Roman geschrieben zu haben. Doch irgendwann wirft er den Block, auf dem ja schon irgendetwas stehen muss, frustriert in die Ecke. Ist das Buch, das wir lesen, vielleicht dieser Roman?

Eintänzer in einem Tanzlokal

„Eins – zwei, eins – zwei – drei“, so werden auch Tanzschritte angezählt. Wan-Duks Vater und sein Onkel Min-Gu arbeiten als Eintänzer in einem altmodischen Tanzlokal. Ihre Spezialität: Jitterbug. Bis das Etablissement einer „Colathek“ weichen muss, einer Kneipe, in der kein Alkohol ausgeschenkt werden darf. Fortan verkaufen die beiden Gemüsehobel mit Massagefunktion in der U-Bahn. Weil der Vater kleinwüchsig ist, im Stehen so groß wie die Fahrgäste im Sitzen, und der Onkel stottert, werden sie als „Behindertentruppe“ beschimpft, verfolgt und verprügelt. Immer wieder verlieren sie auf der Flucht Teile ihrer Ware.

Sich vor der Welt verstecken

Abgründe tun sich auf unter dem Oberflächenwitz der ins Groteske getriebenen Geschichte. Eine Kirche wird zum Zufluchtsort ausländischer Wanderarbeiter. Von der Polizei drangsaliert, müssen sie damit rechnen, jederzeit abgeschoben zu werden. Aus dem Ausland zu stammen, gilt als anrüchig. Wan-Duk erfährt, dass seine Mutter „von drüben“ kommt, aus Vietnam. Sie ist längst eingebürgert, wird aber weiter als Fremde behandelt. Den Sohn siezt sie zunächst. Eine vorsichtige Annäherung beginnt, wobei die von ihr zubereiteten Spare Ribs eine Rolle spielen.

[Kim Ryeo-Ryeong: Eins – zwei. Eins – zwei – drei. Ein Roman aus Korea. Übersetzt von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer. Baobab Books, Basel 2020. 208 Seiten, 18 €. Ab 14 Jahre.]

Haben nicht alle Teenager das Gefühl, Außerirdische zu sein, die ganz allein für sich ein neues Leben erkunden müssen? Für Wan-Duk gilt die Verlorenheit in besonderem Maße. Sein Vater, heißt es einmal, verstecke sich vor der Welt. Der Sohn tut es auch, lange Zeit. Aber in jeder Coming-of-Age-Geschichte steckt auch ein Liebesroman. „Warum bist du allein?“, fragt ihn Mitschülerin Yun-Ha. Als Streberin verschrien, ist sie genauso isoliert in der Klasse wie er. Die schillerndste Figur in dieser Menagerie merkwürdiger Menschen ist der Lehrer Dung-Ju. Seine Schüler traktiert er mit Lebensweisheiten wie der, dass sie nur dazu da seien, „die Bevölkerungszahl aufzustocken“. Wan-Duk nennt er permanent „Holzkopf“, entpuppt sich aber als fürsorglicher Mentor.

Ausgegrenzte als Helden

Ausgegrenzte sind die Helden von „Eins – zwei, Eins – zwei – drei“, das erinnert an den japanischen Film „Shoplifters“, der vom liebevollen Umgang einer Familie von Ladendieben handelt. In Südkorea, wo das Buch 2007 erschien, war es ein Bestseller. Fünf Millionen Besucher sahen die Verfilmung. In einer Gesellschaft, die als konformistisch gilt, ist solch ein Interesse für Außenseiter beachtlich.

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