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Durchsicht. Die „Augen“-Serie entstand 1998. Ganz klein ist die Künstlerin in der Iris reflektiert zu sehen.

© Ingeborg Lüscher, VG Bildkunst Bonn 202

Ingeborg Lüscher im Bochumer Museum unter Tage: Man sieht nur mit dem Herzen gut

Kippen und Kieselstein: Endlich erhält die Schweizer Künstlerin in Deutschland eine Werkschau. Anlass ist ihre große Schenkung.

Ein Saal, noch ein Saal, dann stehen sie endlich da, die berühmten, mit Schwefel beschichteten Kisten von Ingeborg Lüscher. Aufgereiht auf zwei langen schmalen Tischen, verbreiten sie ihr diffuses Licht, wie Wunderschachteln. Man weiß zwar, was in ihnen steckt, nämlich nichts, so offen wie sie sind. Trotzdem geht ein Geheimnis, eine Fülle von ihnen aus.

Ein bisschen verhält es sich auch so mit dem Werk dieser Schweizer Künstlerin. Wenn man glaubt, alles gesehen zu haben, dann ist da immer noch etwas. Alles liegt offen zutage und enthält doch viel mehr.

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Der Zaubertrick lässt sich gegenwärtig in verschiedenen Versionen im Bochumer Museum unter Tage studieren. Anlass für die Werkschau ist eine umfangreiche Schenkung der Künstlerin an die Stiftung Situation Kunst und damit auch die Ruhr-Universität Bochum. Die Objekte, Fotografien, Collagen, Materialbilder, Skulpturen, Videos und Installationen aus allen Schaffensphasen seit den 1960ern gehen in die Sammlung ein und stehen damit weiteren Ausstellungen und den Studierenden zur Verfügung. Ähnlich wie Ingeborg Lüschers Werk keiner Richtung zuzuordnen ist, wird es sich nun prismenartig in Bochum verbreiten.

Die Übersichtsausstellung ist ein Dankeschön an die Künstlerin

Doch zunächst ist da die Übersichtsausstellung, ein Dankeschön an die 85-Jährige, die in dieser Breite noch nie in Deutschland zu sehen war. Zu Unrecht, wie sich erweist. Ihr stand im Wege, aber half zugleich, dass Harald Szeemann, ihr Lebenspartner und sozusagen Erfinder des Berufs Ausstellungsmacher, sie immer wieder auf seinen Documentas und Biennalen zeigte. Das machte sie verdächtig

Wie schüttelt man solche Schatten ab? Im Entree grüßt Lüschers Bildnis von 1972 als einziges Werk, das nicht im Museum unter Tage bleibt: ein Fotoporträt, dem zwei Plexiglasscheiben mit astrologischen Lineaturen und Zigarettenstummeln vorgeblendet sind. Das programmatische Selbstbildnis oszilliert zwischen Esoterik und Materialästhetik. Auch das machte es ihr nicht leicht im Kunstbetrieb.

Lüschers Spuren tauchen im Werk immer wieder auf

„Spuren vom Dasein“ lautet der Ausstellungstitel. Lüschers eigene Spuren tauchen überall auf – und wenn es als Reflexion in der Iris übergroß fotografierter Augen ist. Darin spiegelt sich die Künstlerin mit Kamera. Dazu gehört als Gegenstück das andere Auge mit geschlossenem Lid. Ähnlich wie bei den Schwefelboxen ist eben doch nicht alles sichtbar.

Die Sprunghaftigkeit in Ingeborg Lüschers Werk, die Experimentierfreudigkeit, das Bohrende und zugleich heiter Gelassene, hat mit seinen Anfängen zu tun. Bei Dreharbeiten 1967 in Prag, als die politischen Ereignisse bereits ihre Schatten vorauswarfen, entschied sich die damalige Schauspielerin, die bereits mit Ivan Desny und Helmut Lohn vor der Kamera gestanden hatte, einen anderen Weg zu gehen, stattdessen Künstlerin zu werden. Erst malte sie, dann experimentierte sie mit Feuer, ein weiblicher Phoenix aus der Asche. Der Stoff sollte ihr immer wieder unterkommen.

Mit ihren "Verstummelungen" fing es an

Lüscher nahm sich, was kam, als da wären für eine starke Raucherin zunächst Zigarettenstummel. Die Künstlerin hat sie fotografiert, als wären es Individuen, Sinnbilder gemeinsam verbrachter Zeit, oder in Massen zu Assemblagen verarbeitet. Wie eine Woge kippen sie aus den drei Fensterrahmen, die den Ausstellungsparcours eröffnen.

Das Motiv überbordender Fülle eines nichtigen Materials kehrt am Ende der Ausstellung noch einmal wieder, nun allerdings mit leuchtend gelben Kunststoffbändern, die ansonsten in der Landwirtschaft zur Vertreibung räuberischer Vögel dienen. Geflochten und als Kaskade inszeniert, die sich von der Decke bis zum Boden ergießt, bilden die Plastikschlaufen nun die „Hängenden Gärten der Seramis“. In Lüschers Werk geht alles stufenlos ineinander über: antike Weltwunder, mythische Frauenfiguren und Recycling.

Parallel zeigt das städtische Museum Lüschers Bernsteinzimmer

Bei ihr muss Arte Povera nicht pur, sondern darf erzählerisch sein. Schönstes Beispiel dafür ist ihr parallel im Bochumer Kunstmuseum aufgebautes „Bernsteinzimmer“ (bis 13.3.), das aus Hunderten Sole-Seifen besteht: gelblich schimmernd wie das Vorbild und in den gleichen Maßen, nur von einem reinlichen Duft durchzogen.

Zwischen den geöffneten Fenstern mit Zigarettenstummeln und dem gehäkelten gelben Plaste-Wasserfall spannt sich im Museum unter Tage der Bogen eines enorm facettenreichen Werks. Darin hat unter anderem ein Professor L. seinen Auftritt. Von ihm stammt die Steinsammlung „Das Herz auf dem Weg zur Werdung“ mit 22 Vitrinen, in denen am Strand von Civitanova gefundene Kiesel nach Größe und Form geordnet sind.

Auf Papptafeln werden im Fachjargon des Forschers die Sorten erläutert: der Kreistypus, die Mönchs- und Nonnenherzen, die Depressionsträne. Natürlich ist das eine ironische Volte auf den Wissenschaftsbetrieb und seine kläglichen Versuche, Herzensangelegenheiten zu erfassen. Die Kunst setzt sich über diese Nöte elegant hinweg. Man kann nur mit dem Herzen richtig sehen, scheint uns das Werk zuzuflüstern.

Überall tauchen Dichotomien auf: Hell und Dunkel, männlich und weiblich

Und dann wäre da noch die gestrenge Lüscher, die Minimalistin, die Hell und Dunkel, Schwefel und Asche klar gegeneinandersetzt, die Dichotomie von Lastendem und Tragendem, männlichem und weiblichem Prinzip immer wieder ausspielt. Ihre aus einem Schwefel- und einem Ascheblock gebildete Skulptur, die sowohl schwer als auch leicht zu sein scheint, muss man allerdings bei den Landschaftsbildern des Museums unter Tage suchen. Das passt, denn die Trennlinie zwischen Schwefel und Asche ließe sich auch als Horizont lesen. Dahinter geht es bekanntlich weiter.

[Museum unter Tage, Bochum, bis 18.4.. Katalog 34 €.]

Den Besuchern gibt die Künstlerin noch einen Spruch von George W. Bush mit auf den Weg: „The Game is Over“, so auch der Titel ihres gleichnamigen Videos. Das Zitat des US-Präsidenten stammt aus der Zeit wenige Wochen vor der Invasion 2003 in Irak. Es sollte ganz anders kommen. Seit dem Krieg in der Ukraine hört sich der Ausspruch noch einmal anders an. Und die im Video über Asphalt rasselnden Panzerketten klingen erschreckend nah. Das Werk hat unversehens an Aktualität gewonnen.

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