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Die Architekten Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff, die ihr Büro June 14 nennen, haben die Baugruppe in der Kurfürstenstraße initiiert.

© Oliver Helbig

Individueller bauen: Baugruppen machen es besser

In der Kurfürstenstraße haben zwanzig Bauwillige ein erstaunliches Wohnbauprojekt realisiert. Jenseits der normierten Massenware, die in Berlin sonst hochgezogen wird.

Berlin hat im Jahr 2022 rund 16.500 neue Wohnungen gebaut, davon 6.400 durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften. Die Politik schaut gebannt nur auf die Zahlen, doch der genauere Blick darauf, was da allenthalben hochgezogen wird, erweist: Gebaut wird wie in den 1960er Jahren, normierte Massenware, nicht aber, was die moderne Stadtgesellschaft benötigt.

Im Wesentlichen simple 1,5 und 3-Zimmerwohnungen, doch keine flexiblen Grundrisse, keine veränderbaren Wohneinheiten, keine Wohnungen für andere Lebenszuschnitte als für Singles und 4-Personen-Familien. Auch die Investoren bauen nur konventionelle, dröge Wohnungen, haben sie doch bislang die Erfahrung gemacht, dass ihnen alles aus der Hand gerissen wird und sie sich um brauchbarere Grundrisse und (teurere) Variabilität nicht bemühen müssen.

Variabilität sucht man im landeseigenen Wohnungsbau vergeblich

So ist es nicht verwunderlich, dass die Leuchtturmprojekte, die man als innovativ und nutzerfreundlich bezeichnen kann, allesamt von Baugruppen und Genossenschaften errichtet worden sind, also durch die späteren Besitzer und Bewohner selbst.

16.500
neue Wohnungen hat Berlin 2022 gebaut.

In der Kurfürstenstraße an der Bezirksgrenze zwischen Tiergarten und Schöneberg zum Beispiel, einem Straßenzug mit etwas zweifelhaftem Leumund und mit nach Krieg und Wiederaufbau sehr heterogener Bebauung. Die Architekten Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff, die ihr Büro June 14 nennen, hatten das Grundstück 2012 auf Immoscout gefunden und im Bekanntenkreis eine Gruppe Bauwilliger zusammenzutrommeln. Mehr als hundert Interessenten waren im Gespräch, zwanzig blieben übrig und stiegen in die Planung mit ein.

Dass hier keine Normwohnungen übereinandergestapelt wurden, wie bei vielen Neubauten in der Nachbarschaft, ist offensichtlich. Neben der in dieser Gegend seltsam deplatziert wirkenden, 1914 von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann erbauten ehemaligen Baugewerkschule, die mit ihren monumentalen Säulen an die New Yorker Börse erinnert, steht nun das kristallin gebrochene, gläserne Wohngebäude an der Ecke Frobenstraße.

Es fügt sich zwar mit seiner Größenordnung in das Quartier, doch das ist die einzige Anpassungsgeste. Seine Baukörpergeometrie ist aus dem Ineinanderstecken von sechs fast quadratischen Türmen entstanden. Drei der Türme nehmen die Gebäudeflucht der Kurfürstenstraße auf, die anderen drei sind, etwas winkelverdreht, an der Flucht der Frobenstraße orientiert.

Sechs fast quadratische Türme ineinandergesteckt

Keines der zwanzig Apartments ist wie das andereIm Inneren gibt es zwanzig Wohnungen verschiedener Grundrissvarianten auf acht Ebenen, die ineinander verschränkt sind, als wären sie durch ein räumliches Tetris-Spiel entstanden. Jedes Apartment hat einen fünf Meter hohen Zentralraum mit Innentreppe und peripheren Nebenräumen. Keines der zwanzig Apartments ist wie das andere. So komplex wie die räumliche Komposition gestaltete sich die Verteilung der Wohnungen unter den Interessenten, insbesondere, als der Eckturm nicht in der geplanten Höhe genehmigt worden war und das Arrangieren in eine neue Runde ging.

Über die Architektur war man sich rasch einig: bloß nicht konventionell. Die Ortbetonkonstruktion bleibt weitgehend sichtbar (heute würden die Architekten nach eigenem Bekunden über einen Holzbau nachdenken). Kühle Loftatmosphäre mit Sichtbeton, Betonestrichböden, weißen Gipskartonwänden und Innentreppen aus Stahl sowie herkömmliche Heizkörper statt Fußbodenheizung (wegen der begrenzten Bauhöhe) bestimmen die kostenbewusste Bauausführung.

Weil sich die raumhoch verglasten Außenwände großflächig öffnen lassen, haben die Bauherren auf kostentreibende Balkone verzichtet. Der freie Blick weitet sich in den Straßenraum, die Kurfürstenstraße wird zum Interieur der Apartments und trägt zur luftigen Atmosphäre des zum Teil zweigeschossigen Raumkontinuums bei, das man „Wohnzimmer“ nicht nennen mag. Es gibt meist ein Badezimmer pro Ebene, hier und da einen abgeschlossenen Stauraum.

Auf kostentreibene Balkone wurde verzichtet

Die kühlen, von Beton und Glas beherrschten Räume animieren ohnehin zur individuellen Aneignung und Ausgestaltung. In den meisten Apartments herrscht ein hippes Wohngefühl vor, das ein wenig an die High-Tech-Zeit des Industrial Style Ende der 1970er Jahre in New York erinnert.

Einige der Apartments profitieren von einem Stück Dachterrasse oder Garten vor dem Wohnzimmer. Allen gemeinsam kommen die beiden Lobbys im Erdgeschoss und der Dachgärten sowie der erstaunlich großzügige Gartenhof zugute, was die Wohnqualität erheblich steigert und wodurch sich Kontakte und Nachbarschaftsbeziehungen zu den anderen Bewohnern ergeben.

Und vielleicht entstehen durch die Kontakte auch neue Konstellationen. Dass zum Beispiel zwei Apartments als größere Wohnung oder für Wohnen und Arbeiten zusammengelegt werden, oder dass jemand einen Raum abgibt, der dem Nachbarn zugeschlagen wird. Diese Flexibilität erlaubt das Bausystem ohne großen Aufwand und ist Teil des radikal gegenwärtigen Programms, vom schematischen Wohnungsbaueinerlei wegzukommen hin zu individuellen, auf unterschiedlichste Lebensentwürfe zugeschnittene, zukunftsfähige Lösungen.

So steht der Bau als Anschauungsobjekt und Vorbild dafür, was alles gehen könnte und was alles besser wäre, würde man individueller und benutzerbezogen bauen.

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