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Die Besucher fragen, die Zeitzeugen antworten. Künstliche Intelligenz macht es möglich.

© Alexander Paul Englert

„Frag Kurt und Inge!“: Zeitzeugen im interaktiven Dialog

Das Deutsche Exilarchiv verewigt die Lebenszeugnisse von Holocaust-Überlebenden.

Wer fragen will, drückt auf einen Knopf, spricht in ein Mikrofon. Kurt Maier – fliederfarbenes Hemd, blitzblank geputzte braune Schuhe – sitzt derweil in einem wuchtigen Sessel, lächelt ein wenig. „Können Sie sich an Ihren Schulbesuch erinnern?“ Einen Moment dauert es, bis Maier antwortet, dann legt er los. „Ich habe die Volksschule Kippenheim besucht ...“ Maier berichtet, dass er und sein älterer Bruder Heinz damals mit einem Rucksack zur Schule gegangen seien, „da hing ein Schwamm dran, den haben wir am Dorfbrunnen nass gemacht.“ Sie hätten in der Schule nicht auf Papier, sondern mit Griffel auf einer Tafel geschrieben. „Das war wie im 19. oder 18. Jahrhundert.“

Virtuelle Begegnung

Kurt Maier, der hier erzählt, der auf dem wuchtigen Sessel sitzt, begegnet uns auf einem riesigen Bildschirm, lebensgroß, doch nur virtuell, nicht real. Maier ist also gar nicht persönlich präsent, und kann doch präzise Antworten auf individuelle Fragen geben. Zu hören, zu sehen, ja zu erleben ist das in einer seit Freitag geöffneten Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933 - 1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main.

„Frag nach!“, heißt die Ausstellung, die zwei Teile hat: erstens eine klassische Ausstellung mit Fotos, Dokumenten, Gegenständen der Holocaust-Überlebenden Kurt Salomon Maier und Inge Auerbacher über ihre Kindheit im badischen Kippenheim, Entrechtung, Verfolgung, Deportation – und ihr Leben in Freiheit. Zweitens das digitale Interview, das es möglich macht, mit Maier (und demnächst mit Auerbacher) in einen Dialog zu treten. Die Besucher fragen, die Zeitzeugen antworten. Künstliche Intelligenz sei Dank: Eine Spracherkennungssoftware wandelt die mündlich gestellten Fragen in Textdateien um. Die Fragen werden dann mit einer Datenbank abgeglichen, in der je 900 Antworten der Zeitzeugen vorliegen. Während dieses Prozesses, der ein paar Sekunden dauert, lächelt Maier – bis seine Antwort zu hören ist.

Beachtliche Ausdauer

Jeweils eine Woche lang hatte dafür Sylvia Asmus, Leiterin des Exilarchivs, Maier und Auerbacher in Nähe ihrer Wohnorte in den USA auf Deutsch interviewt. Maier stand in einem Studio bei Washington Rede und Antwort, Auerbacher in New York. Fünf Tage lang, jeweils acht bis neun Stunden, dauerten die beiden Interviews jeweils. Maier, Jahrgang 1930, und Auerbacher, Jahrgang 1934, legten also eine beachtliche Ausdauer an den Tag.

Sie sei selbst skeptisch gewesen, habe digitale Zeitzeugen-Interviews zunächst für einen „fiktiven Hokuspokus“ gehalten, sagt Kuratorin und Interviewerin Asmus. Doch diese Technik, so sieht sie das Heute, kann Erinnerung und Schilderungen der Zeitzeugen des Holocausts, von denen es ja immer weniger gibt, bewahren – und weitertragen.

Besucher der Ausstellung „Frag nach!“.

© Alexander Paul Englert

„Frag nicht Dein Geschichtsbuch! Frag Kurt und Inge! - so wirbt das Exilarchiv nun für das Projekt, das in Kooperation mit der Shoah Foundation, finanziell ermöglicht durch Bund und Land Hessen, entstanden ist. Eine Online-Version des interaktiven Interviews mit Maier ist ebenfalls freigeschaltet (www.fragnach.org). Graphic-Novel-Animationen schildern die Leben von Maier und Auerbacher, jeweils zu Beginn und Ende erklingen deren Originalstimmen.

Verewigte Erinnerungen

Doch wie blicken die beiden Zeitzeugen selbst auf das Interview, ihre gewissermaßen verewigten Erinnerungen? „Jede Frage hat neue Erinnerungen in mein Gedächtnis gebracht“, sagt Maier, die Fragen seien deshalb spannend für ihn gewesen. „Man kann 100 Bücher lesen, man kann 100 Filme sehen“, sagt Inge Auerbacher, „wenn man einer Person in die Augen schauen kann, dann ist das etwas ganz anderes.“

Auerbacher und Maier sind beide zur Ausstellungseröffnung nach Frankfurt gekommen, aus den USA angereist. Seit an Seit sitzen sie am Donnerstagabend auf der Bühne. Iris Berben liest aus ihren beider Büchern; der israelische, in Frankfurt lebende Pianist Omer Klein spielt Jazz. Es ist ein kleines Wunder, dass Auerbacher, 88, und Maier, 93, hier gemeinsam präsent sind – und es schließt sich ein Kreis.

Beide nämlich stammen aus dem badischen Kippenheim, wurden hier geboren. „Ich erinnere mich an Inges Geburt“, sagt Kurt Maier, „und wie sie bei uns im Haus später als kleines Kind gespielt hat. Einmal hatte sie sich als Kaminfeger verkleidet.“ Maier und seine Familie wurden 1940 ins Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen deportiert, konnten dank amerikanischer Verwandte 1941 in die USA fliehen. Auerbacher traf es härter, sie wurde als Kind von 1942 bis 1945 im Getto Theresienstadt gefangen gehalten. Ein Jahr nach der Befreiung wanderten sie 1946 in die USA aus. Beide Kippenheimer also begannen ihr Leben in Freiheit in den USA, wo sie bis heute leben. Auerbacher war Chemiker, Maier arbeitet bis heute als Bibliothekar.

Verewigt durch künstliche Intelligenz

Regelmäßig reisen Auerbacher und Maier nach Deutschland, reden mit Schülern, erzählen aus Kippenheim, von Deportation, Lager, Überfahrt nach New York und das neue Leben. Sie werden weiter Auskunft geben, Dank Künstlicher Intelligenz auch noch dann, wenn sie eines Tages selbst nicht mehr werden reden können.

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