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Komponist Olivier Messiaen, der Fotograf heißt Ralph Fassey

© Ralph Fassey

Folge 179 „Wochniks Wochenende“: Messiaens Quartett für Kriegsgefangene

Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ entstand im Görlitzer Kriegsgefangenenlager – im Kammermusiksaal kommt diese Seite kaum zur Geltung, finden manche Musiker. Und inszenieren es neu.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik

Die allermeiste Musik, die Kriegsschrecken verarbeitet, darf man wohl als engagiert betrachten. Nur selten trägt sie den Schrecken so unmittelbar in sich wie das „Quartett für das Ende der Zeit“ – Quatuor pour la fin du temps – des französischen Komponisten Olivier Messiaen. 1940/41 schrieb er es im Stammlager VIII A, einem Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht im Süden von Görlitz. Bis zu 48.000 Franzosen und Belgier waren hier um 1940 in 30 Baracken zusammengepfercht, die für weniger als halb so viele Menschen gedacht waren. Eine der Baracken war Kirche, eine andere, 27 B, war Theaterbaracke.

Als er selbst am Klavier, mit drei weiteren Gefangenen, nämlich Jean Le Boulaire an der Violine, Henri Akoka, Klarinette und Étienne Pasquier am Cello, es am Abend des 15. Januar 1941 in der Theaterbaracke vor Gefangenen und der deutschen Lagerleitung uraufführte, soll die Luft eisig, der Schnee draußen dicht gewesen sein. Rund 50 Minuten dauert das Werk, das in acht Sätzen die Johannesoffenbarung, sprich Apokalypse beschwört. Nie wieder sei mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört worden, notiert der Komponist.

Klarinettist David Krakauer und Cellist Matt Haimovitz sahen in der heute üblichen Aufführung des Quartetts in kammermusikalischem Setting, dem „Framing“, wie Haimowitz es nannte, ein Problem. Neben beliebigen anderen kammermusikalischen Werken gespielt, würde die Dringlichkeit verwässern, die aus dem krassen Kontrast der Musik zum Ort ihrer Aufführung herrührte. Daher beschlossen die beiden, es neu zu „framen“: Ihr schon 2014 aufgenommenes Programm beginnt mit einer quasi-Improvisation für Klarinette und Cello, benannt nach dem Klarinettisten der Uraufführung: „Akoka“.

Henri Akoka spielt in der Geschichte des Quartetts eine besondere Rolle: Schon 1940, also bevor das restliche Quartett geschrieben war, soll er den dritten Satz, das Klarinettensolo „Abgrund der Vögel“, uraufgeführt haben. Und zwar auf einem Feld bei Toul, westlich von Nancy, wo die Franzosen gefangengehalten wurden, bevor man sie nach Schlesien brachte. Messiaen, der als Hobby-Ornithologe Vogelgesänge mitschrieb, sieht darin Vögel über dem Abgrund der Zeit kreisen, bevor der Engel der Apokalypse auftritt, um das Ende aller Zeit zu verkünden.

Nach Akoka und dem Quartett, gespielt von Krakauer, Haimowitz, sowie Johnny Gandelsman, Violine und Kathleen Tagg am Klavier, steht Samstagabend (19 Uhr) im Pierre Boulez Saal schließlich eine elektronische Komposition des Beat-Machers und Klezmer-Künstlers Socalled auf dem Programm: „Meanwhile...“, also „Zwischenzeitlich“ heißt das Werk, dessen Platzierung am Programmende eine Ansage an die Idee vom Ende der Zeit ist.

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