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Der Schriftsteller Bernhard Schlink dramatisiert in seinen Texten Fragen nach Schuld, Sühne und Selbstbetrug.

© Alberto Venzago/Diogenes

Erzählungen von Bernhard Schlink: Tiefenschichten abgeklärter Bürgerlichkeit

Selbstgespräche und Lebenslügen: Bernhard Schlinks routinierter Erzählband „Abschiedsfarben“ findet keinen Zugang zu echten Gefühlen.

Nicht selten sind Alterswerke von einem Nachdenken über den Tod geprägt, von Figuren, die ihre verbliebene Lebenszeit mit der Sehnsucht verbringen, die Lust und Leidenschaft, die sie in früheren Jahren empfunden haben, noch einmal mit großer Intensität zu erleben.

Der nunmehr 76-jährige Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink präsentiert mit „Abschiedsfarben“ seinen dritten Erzählband, und schon der Titel, aber auch die ersten Sätze dieses Buchs setzen überdeutlich das Thema: „Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt.“

Wer angesichts des nahenden Todes auf das Leben zurückblickt, wird sich verständlicherweise fragen, ob diese oder jene Entscheidung falsch war, was möglicherweise geschehen wäre, wenn man eine andere Abzweigung an den wichtigen biographischen Weggabelungen genommen hätte. Manchmal entwickelt sich aus diesen Gedanken eine Art Selbstkritik, die zeitlebens gefehlt hat.

Ein exemplarisches DDR-Schicksal

Viel zu oft aber fehlt jede Einsicht in die Lebenslügen. Der Held in Schlinks Erzählung „Künstliche Intelligenz“ zum Beispiel hat seinen Freund Andreas an die Staatssicherheit verraten. In der DDR waren beide aufstrebende Informatiker, wobei der eine vor allem an sein Institut dachte, der andere aber die Flucht plante.

Doch der Freund sollte nicht gehen dürfen. „Andreas wäre im Westen nicht glücklich geworden“, lautet der ungeheuerliche Satz, den sich der Ich-Erzähler im Selbstgespräch vorbetet, das sich immer wieder darin erschöpft, sich von aller Schuld freizusprechen.

Auch nach dem Fall der Mauer wird der Verrat nicht publik, weil die Freunde nicht in die Stasi-Unterlagen schauen möchten – weil sie wohl ahnen, was darin zu lesen ist. Aber das möchte die Tochter des verstorbenen Freundes nachholen. Sie verlangt Akteneinsicht. Ob die Wahrheit rauskommt, ob sie publiziert wird, ob es eine Form von später Gerechtigkeit geben kann, lässt die Erzählung offen.

Fragen nach Schuld, Sühne und Selbstbetrug

Bernhard Schlinks dramaturgische Stärke, die er auf höchst erfolgreiche Weise in seinem Weltbestseller „Der Vorleser“ ausspielte, zeigt sich im Ausarbeiten von grundsätzlichen Konfliktsituationen, die sich mit Fragen nach Schuld, Sühne und Selbstbetrug befassen. Die Ursachen für die existentiellen Krisen am Lebensabend der Protagonisten mögen in seinen neuen Geschichten mal politischer, dann wieder privater Natur sein, alle Texte aber eint der Modellcharakter.

Schlink interessiert sich weniger für komplizierte Seelenlagen, für eine den psychologischen Tiefenschichten jeweils angemessene, überraschende, künstlerisch ambitionierte Sprache. Die Eintönigkeit des literarischen Ausdrucks resultiert vielleicht auch in der Wahl der immer ähnlichen sozio-kulturellen Milieus. In „Abschiedsfarben“ versuchen nämlich grundsätzlich ältere und finanziell bessergestellte Akademiker dem eigenen Selbstmitleid zu entkommen.

Gefühle schlagen in Kitsch um

Mal hilft ein erfolgreicher Schriftsteller einer ehemaligen Geliebten nicht, die vom neuen Lover lebensgefährlich verletzt wird. Mal entsagt eine Erbin der großen Liebe, weil sie dem Bruder, den sie einst von einer Klippe stürzte, wegen des schlechten Gewissens helfen muss. Selbst wenn wie in „Geliebte Tochter“ eine lesbische Partnerschaft erzählt wird, erfahren wir davon aus einer seltsam paternalistischen Perspektive.

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Überhaupt scheinen die Figuren in ihrer abgeklärten Bürgerlichkeit keinen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Was auch nicht weiter tragisch wäre, wenn die Bilder und Formulierungen, in denen alles vorgetragen wird, nicht immer die naheliegenden wären, wenn das literarische Nichtgespür für emotionale Eruptionen nicht plötzlich in Kitsch umschlüge: „Wenn er das Weinen nicht verlernt hätte, hätte er geweint. Er sehnte sich oft danach, zu weinen. Er sehnte sich danach, dass der schwarze See der Traurigkeit in seiner Brust in einem Strom von Tränen ausliefe.“

Mehr Jurist als Literat

Bernhard Schlink macht es sich oft zu einfach, setzt zu häufig auf bekannte Schablonen, als dass er Neues wagt. Das macht seine Abschiedsgeschichten streckenweise zu einer mühseligen Lektüre, die ein krasses Missverhältnis offenbart: Einerseits befasst sich Schlink zu wenig mit seinen Figuren, andererseits buchstabiert er biographische Eckdaten und Handlungen auf eine eher juristische als literarische Weise so vollumfänglich aus, dass poetische Zwischenräume nicht entstehen können.

Das Alter mag anstrengend und schrecklich sein, von Sehnsüchten und Einsamkeit geprägt. Gute Literatur aber vermag auch dem oft Beklagten ein paar Geheimnisse abzuringen.

Diese „Abschiedsfarben“ bewegen sich im dunkleren Pastellbereich und liefern neun Beispiele eines geheimnislosen Erzählens, das als Sommerlektüre durchgehen mag und sich ohne Reibungsverluste in die erholsame Routine von Herumdösen am Strand und gelegentlicher Erfrischung im Meer einfügt.
Bernhard Schlink: Abschiedsfarben. Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 232 Seiten, 24 €.

Carsten Otte

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