zum Hauptinhalt
Der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink ist seit ’72 Mitglied bei den Sozialdemokraten.

© Alberto Venzago/Diogenes Verlag

Interview mit Bernhard Schlink: „Ich erlebe die SPD als einfallslos, mutlos, kraftlos“

Er warb für Hillary Clinton und besuchte Angela Merkels Eltern. Bernhard Schlink über die traurige SPD, Brandenburgs Dörfer und intensive Massagen.

Von

Herr Schlink, Ihre Bücher behandeln meist historische Stoffe. Reden wir zur Abwechslung über die Gegenwart. Sie sind SPD-Mitglied. Was hat Sie in den Monaten seit der Bundestagswahl aufgeregt?

Wie sich meine Partei aufgeführt hat und aufführt. Merkel wollte Jamaika nicht, sondern die große Koalition und hat die leicht kränkbare FDP so behandelt, dass sie gekränkt gegangen ist. Dass die SPD dies unkommentiert hat geschehen und sich unversehens hat einfangen lassen, macht mich traurig. Mich macht traurig, wie sie den Wahlkampf geführt hat, wie sie die Wahl verloren hat und das Hin und Her danach.

Sie blicken ehrlich betroffen drein.

Ich bin seit ’72 Mitglied und halte für möglich, dass die SPD wie die französischen Sozialisten abfällt. Wie sozialdemokratische Politik heute aussehen soll, weiß sie nicht – wie es auch die anderen Sozialdemokraten in Europa nicht wissen und nicht die Demokraten in den USA. Sie müsste nachdenken, aber ihre Politiker haben dazu keine Zeit, und ihre Ebert-Stiftung nicht das intellektuelle Potenzial. Ich erlebe die Partei als einfallslos, mutlos, kraftlos.

Wären Ihnen Neuwahlen lieber gewesen?

Klaus Staeck und ich hatten einen kleinen Aufruf geschrieben. Zwei plus fünf – die SPD sollte mit fünf erfüllbaren Forderungen in eine große Koalition auf zwei Jahre gehen, mit anschließenden Neuwahlen. Sofortige Neuwahlen verträgt niemand und auch die SPD nicht. Aber auch eine weitere große Koalition auf vier Jahre verträgt die SPD nicht.

Bei der Bundestagswahl wurde offenbar, wie tief die Spaltung zwischen Ost und West noch ist. Hat Sie das überrascht?

Ich kam im Januar 1990 an die Humboldt-Universität und glaube, die ehemaligen Bürger der DDR einigermaßen zu verstehen. Ihre schönste Eigenschaft ist ihre Ernsthaftigkeit. Sie haben alles ernst genommen, auch die Politik. Aber Politik ist ein mediales Ereignis geworden, das aufgeführt und gespielt wird, und bei dem die Performance oft wichtiger ist als die Sache. Das führt zu dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und zu Protest, auch zum törichten Protest, AfD zu wählen.

Wir entschuldigen diese Törichten oft mit Verständnis dafür, dass sie sich abgehängt fühlen.

Die DDR war der vormundschaftliche Staat. Sie hat sich um ihre Bürger in einer beengenden und bedrängenden, aber auch fürsorglichen Weise gekümmert. Nach den Umbrüchen der Wende mussten die Menschen sich um vieles sorgen, was ihnen davor abgenommen worden war. Dazu kamen der Wegfall von Arbeitsplätzen, die Entwertung von Ausbildungen und Karrieren, die Zerstörung staatlich organisierter Jugend- und Erwachsenenkultur. Da kann man sich schon abgehängt fühlen.

Sie saßen 1990 am Runden Tisch, um an einer neuen Verfassung der DDR mitzuarbeiten. Wie begegneten Ihnen die Vertreter der DDR?

Es gab eine schöne Neugier aufeinander, besonders in den ersten Monaten. Aber ich erinnere mich an Fahrten mit Rosi Will, der damaligen Dekanin der HU, auf denen sie, wenn mir etwas gefiel, seufzte, als wollte ich, der Sieger, es ihr, der Verliererin, wegnehmen. Wir konnten das zwischen uns klären. Doch das Gefühl kam unter den Ostdeutschen bald auf: Jetzt sacken die Westdeutschen alles ein.

Sie wurden berühmt mit einem Buch über die Aufarbeitung deutscher Vergangenheit – „Der Vorleser“ ist in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Brauchen wir eine neue Debatte über die Folgen der Wende?

Wir müssen daran arbeiten, dass zusammenwächst, was zusammengehört. Das kann nicht geschehen, wenn die Politik dahin geht, jede Schule, die nicht zweizügig geführt werden kann, zu schließen, wenn es in den Dörfern Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns keine Schule, keine Kirche, keine Polizei, keinen Arzt mehr gibt. Da wollen die Menschen nur noch wegziehen, und ein Investor lässt sich schon gar nicht nieder.

Was tun Sie dagegen?

Die Meyer-Struckmann-Stiftung, in deren Vorstand ich bin, unterstützt zum Beispiel einen alten Gelenkbus, der in ein Kinder- und Jugendzentrum umgerüstet wurde. Der Bus ist jeden Tag in einem anderen Dorf; die Kinder warten, dass er endlich kommt.

Es gibt kein staatliches Museum für DDR-Geschichte, kein Mahnmal für die Stasi-Opfer, der Bau der Einheitswippe wurde auf 2019 verschoben. Gehen wir richtig mit der jüngeren Vergangenheit um?

Lange wurde alles, was sichtbar an die DDR erinnerte, abgeräumt. Ich hätte den Palast der Republik nicht abgerissen. Ich hätte ihm ein balancierendes bauliches Gegenstück auf dem weiten leeren Terrain gewünscht. Die DDR ist ein Bestandteil unserer gemeinsamen Nachkriegsgeschichte. Sie gehört deshalb auch nicht in ein eigenes Museum, sondern in das Deutsche Historische Museum.

"Bei Merkel ist die DDR-Prägung stärker als die durch das Pfarrhaus"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Gregor Gysi (Die Linke) während einer Sitzung im Bundestag in Berlin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Gregor Gysi (Die Linke) während einer Sitzung im Bundestag in Berlin.

© Claudia Kornmeier/dpa

Gerade erreichte uns ein Leserbrief, der beklagte, die DDR-Darstellung in den Medien sei die „heilige Dreieinigkeit von Stasi, Fluchtversuchen und Ausreiseanträgen“. Hat er recht?

Vor kurzem war ich auf dem 70. Geburtstag von Gregor Gysi im Deutschen Theater und musste an die Stasi-Show denken, die die Medien mit ihm veranstaltet haben. Dabei ging es nicht um Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern um Delegitimierung eines Politikers in der Gegenwart. Gysis Familie war DDR-Aristokratie, die Stasi hatte ihm nichts zu bieten, er hatte keinen Grund, ihr zu dienen.

Stellen Sie sich vor, Gysi wär’ in die SPD eingetreten.

Stellen wir uns vor, die SPD hätte nach der Wende die Arme für die aufgemacht, die eine politische Heimat suchten, nachdem es ihnen die SED nicht mehr sein konnte! Wir hätten eine stärkere SPD.

Gysi als Kanzler?

Kanzler kann er nicht. Ich denke, Kanzler will er auch nicht. Er war schon als Senator nicht in seinem Element. Er brilliert lieber in der Opposition, in politischen Kämpfen, gesellschaftlichen Diskursen. Zugleich ist er, glaubt man Wowereits Geburtstagsrede, bei der Beschäftigung mit Akten von einer Pedanterie, mit der er sich totarbeitet.

Angela Merkel arbeitet sich nicht tot?

Nicht in der Beschäftigung mit Akten.

Steht die Pastorentochter Ihnen, als Sohn eines protestantischen Theologen, nahe?

Ich war mal bei ihren Eltern, die eine kleine Kirche in der Nähe von Templin renoviert, als Begegnungsraum eingerichtet und mich zu einer Lesung eingeladen hatten. Danach haben sie mich zu Hause bewirtet. Die Einrichtung und das Abendessen waren vertrautes protestantisches Pfarrhaus.

Und zwar?

Die gewisse Bescheidenheit, der Stil zwischen Biedermeier und moderner Schlichtheit, das Klavier mit den aufgeschlagenen Noten, vielleicht Bach-Chorälen, das Gebet vor und nach dem Essen, der Kartoffelsalat mit Würstchen. Aber mir scheint bei Angela Merkel die Prägung durch die DDR stärker zu sein als die durch das Pfarrhaus. Dass sich ihr Vertrauen auf einen engen Kreis beschränkt, dass sie auf große Perspektiven und Visionen verzichtet, dass sie mit Russland nicht kann – das scheint mir DDR-Prägung zu sein.

In diesem Jahr wird die Bewegung der 68er 50 Jahre alt, das war Ihre Generation. Welche Verwerfungen gab es in Ihrer Familie?

Hitzige Diskussionen mit meinem Vater. Er hatte die Universität 1933 vor die Hunde gehen sehen und nach 1945 als Professor wieder mit aufgebaut. Für ihn waren die 68er-Ereignisse nur die Wiederholung des Traumas von 1933. Damals hatten Studenten Vorlesungen gestört und gesprengt, Professoren niedergemacht, das akademische Zusammenspiel zerstört – das machten sie jetzt wieder. Dass die Ideen andere waren, zählte für ihn nicht.

Konnten Sie ihn irgendwie erreichen?

Wir haben leider keine Ebene gefunden, auf der wir miteinander reden konnten. Auch was ich später als Rechtswissenschaftler geschrieben habe, gegen die Notstandsgesetze, gegen den Radikalenerlass, für die Reform des §218 StGB, war ihm ein Dorn im Auge. Was als Auseinandersetzung über die Studentenbewegung begann, hat sich lebenslang fortgesetzt und große Distanz zwischen uns geschaffen.

Herr Schlink, Sie wirken so bedacht. Stimmt’s, dass Sie ungern die Kontrolle über sich abgeben?

Was schwebt Ihnen vor – SM?

Nächte durchfeiern, stimulierende Substanzen probieren, über die Stränge schlagen. Fürchten Sie das?

Mir ist der Gedanke, dass es da was zu fürchten gibt, nie gekommen. Natürlich habe ich schon Nächte durchgefeiert, und in Kalifornien habe ich bei einem Freund gewohnt, der Kokain gedealt hat. Aber in der Tat – die Kontrolle gebe ich nicht ab.

"Amerika verliert seine Großzügigkeit"

Überall gibt es Trump. Die amerikanische Politik sei ideologisch und borniert, sagt Schlink.
Überall gibt es Trump. Die amerikanische Politik sei ideologisch und borniert, sagt Schlink.

© imago/Levine-Roberts

Immerhin haben Sie einer Freundin in der DDR zur Flucht verholfen.

Ich habe gefälschte Papiere besorgt. Es gab damals Reisen nach Prag für West-Berliner und Ostdeutsche. Meine Freundin konnte als Ostdeutsche aus der DDR ausreisen und, als der tschechische Zoll fünf Minuten später kam, mit den Dokumenten als Westberlinerin in die Tschechoslowakei einreisen.

Wo bekamen Sie die Papiere her?

Von Leuten, die kriminelle Verbindungen zur Senatsverwaltung hatten und wohl auch zur Reiseverwaltung der DDR. Ich habe die Passbilder besorgt, die Papiere transportiert, sozusagen die Fußarbeit erledigt. Ich erinnere mich an das Treffen mit diesen Leuten in einer Kreuzberger Kneipe. Sie trugen Kamelhaarmäntel und goldene Ringe an den Fingern, mafiose Gestalten.

Waren Sie aufgeregt?

Nach der Begegnung mit ihnen war mir klar, dass es jetzt ernst wird und kein Zurück gibt. Ich kam am frühen Nachmittag nach Hause, war völlig erschöpft, zitterte wie im Fieber. Ich habe zwei Stunden geschlafen, bin aufgewacht und hatte danach nie mehr Angst.

In den 70er Jahren sind Sie in die USA gezogen. Sie versprachen sich Freiheit. Hat sich das eingelöst?

Als ich nach Stanford ging, war gerade meine Ehe gescheitert. Ich fand das Scheitern furchtbar und war froh, rauszukommen, wegzukommen. Ich bin anhänglich, ich lebe mich in eine einmal geschaffene gemeinsame Welt ein und halte ihr Zerbrechen nicht gut aus. Die Weite Amerikas hatte etwas Erleichterndes, Beflügelndes. Ich konnte mir vorstellen, dass es ein Leben nach der Trennung gibt.

Heute pendeln Sie zwischen Deutschland und Amerika. Wie hat sich das Land seit Trump verändert?

Amerika verliert seine Großzügigkeit. Die Politik ist ideologisch und borniert, die Gier der Reichen schamlos, die Gesetze und Maßnahmen sind umwelt-, sozial- und frauenfeindlich. New York ist dieselbe Stadt, die Landschaft ist dieselbe, die Freunde sind dieselben – aber Trump legt sich wie Mehltau auf alles. Mit den wenigen republikanischen Freunden vermeide ich das Thema Politik, weil die Gespräche unergiebig sind. Aber auch mit den meisten demokratischen Freunden sind sie unergiebig, weil sie ratlos sind, ratlos bis zur Resignation.

Sie könnten das Land boykottieren.

Ein paar kämpfen. Meine amerikanische Freundin kämpft für ein besseres Wahlverfahren. Im politischen System der USA kann der Wahlsieger den Staat zu seiner Beute machen, wie es in Deutschland mit seinen rechtsstaatlichen Sicherungen unvorstellbar ist. Um die Beute wird mit allen Mitteln gestritten, grob, tückisch, skrupellos. Inzwischen habe ich begriffen, dass das Bild, das ich in den 70ern in Stanford von Amerika gewonnen habe, falsch war. Damals war Amerika vom Vietnamkrieg erschöpft, friedlich, harmoniebedürftig.

Eine Ausnahme.

Ja, so war Amerika weder davor noch danach. Das Land, das ich in den 50ern und 60ern mehr in Filmen als in Büchern kennen und lieben lernte, hat die damaligen massiven Rassenkonflikte überhaupt nicht thematisiert. Die amerikanische Gesellschaft war zerrissen, und sie ist es heute erst recht; zu den Rassenkonflikten kommen die Drogenprobleme, die geringen sozialen Aufstiegschancen, die Angst der Mittelschicht vor dem ökonomischen Abstieg, die Verunsicherung im Verhältnis der Geschlechter dazu. Die Auseinandersetzungen werden aggressiver, auch sexistischer.

Wo erleben Sie Sexismus?

Ich habe ihn erlebt, als ich im Wahlkampf für Hillary Clinton von Tür zu Tür ging und von ihren Gegnern die unflätigsten pornografischen Äußerungen über sie zu hören bekam.

Sie haben als junger Professor auch eine Ausbildung zum Masseur in den USA gemacht. Verstehen Sie, dass wir uns das so gar nicht vorstellen können?

Nicht? Es war eine gute Erfahrung, und ich massiere noch heute ab und zu einen Freund oder eine Freundin. Ich war damals nach der Habilitation der Worte müde, Massage ist ein Kontakt ohne Worte, nicht erotisch, nicht sexuell, aber intensiv. So intensiv, dass es zwischen dem Masseur und dem Massierten einen Energieausgleich gibt; wenn der Masseur gut drauf ist und der Massierte schlecht, geht es nach der Massage dem Masseur schlechter und dem Massierten besser und umgekehrt.

Was fürs Leben gelernt?

Unser Körper kennt uns manchmal besser als unser Verstand.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false