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Judith Kerr in ihrer Londoner Wohnung, fotografiert 2018.

© imago/tagesspiegel/Mike Wolff

Erinnerungen zum 100. Geburtstag: Judith Kerrs wundersame Kreaturen

Vier Jahre nach ihrem Tod feiert man in England den 100. Geburtstag der gebürtigen Berlinerin. Hierzulande fällt das Jubiläum bescheiden aus.

Marlene Dietrich war unter den gebürtigen Berlinerinnen, die ab 1933 nicht mehr in Deutschland leben wollten oder konnten, sicher die weltweit Berühmteste. Aber die später Zweitberühmteste dürfte wohl Judith Kerr gewesen sein. Freilich war sie, als ihr Vater, der große Theaterkritiker und Zeitungsschriftsteller Alfred Kerr, kurz nach Hitlers Machtergreifung im Nachtzug fliehen musste und die Mutter Julia mit ihr und dem Sohn Michael bald ins Exil folgten, noch nicht ganz zehn Jahre alt.

Welches Kuscheltier Judith damals in dem – äußerlich bis heute weitgehend unveränderten – Haus Douglasstraße 10 in Berlin-Grunewald zurücklassen musste, wissen inzwischen Millionen alte und junge Leser auf allen Kontinenten. Denn es hat ihrer 1968 erschienenen, romanhaften Kindheitserinnerung „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ den einprägsamen Titel gegeben.

Ich weiß, wie abhängig es macht, arm zu sein. Ich brauche nicht viel Geld, aber ich möchte unabhängig sein. 

Judith Kerr, 2013 im Tagesspiegel-Interview

Gut vier Jahre nach der Trauer um Judith Kerrs Tod in ihrem Londoner Haus feiert nun vor allem ihre zweite, endgültige Heimat England sehr heiter und vielfältig ihren 100. Geburtstag. Wobei die gleichermaßen mit Berliner Witz und britischem Humor gesegnete Schriftstellerin und Illustratorin nicht nur im „Rosa Kaninchen“ unterblich weiterlebt. Dem vermeintlich längst erschöpften Genre der Kinder-Tierbücher hat sie für Leserinnen und Leser tatsächlich jeden Alters immer neue Kreaturen und Kreationen hinzugefügt.

Judith Kerr war auch eine respektierte Zeichnerin

So ist dieser Tage im Londoner Verlag Harper Collins der zuerst zum 90. Geburtstag erschienene Jubiläumsband „Judith Kerr’s Creatures. A Celebration of her Life and Work“ als erweiterte Neuauflage herausgebracht worden (176 Seiten, 30 Pfund). In einem neuen Kapitel dokumentiert darin Kerrs Sohn Matthew Kneale, selbst ein preisgekrönter Romanautor („Englische Passagiere“), eine Reihe bisher unveröffentlichte Zeichnungen und Texte, die seine Mutter noch in den letzten Lebensjahren verfertigt hat. Zudem stammt das schöne Cover-Porträt der Jubilarin von Judiths Tochter, der Schauspielerin und Malerin Tacy Kneale.

Kerrs Bücher über den Kater Mog erfreuen sich bei Kindern bis heute großer Beliebtheit.

© imago images/Horst Rudel

Vor allem aber präsentiert der Prachtband noch einmal das ganze herrlich kerrliche Panoptikum: etwa die 17 Fabeln rund um den vergesslichen Kater Mog oder die charmante Geschichte vom „Tiger, der zum Tee kam“. Zudem wird erinnert, dass zum „Rosa Kaninchen“ noch zwei weitere Erzählungen der Verfolgungs- und Exilerfahrungen gehören.

Sonst noch seltener im Blick: Judith Kerr, die nach dem Krieg an einer Londoner Kunstakademie studiert hat, entwarf auch sehr erwachsene Bilder. Von Träumen und Alpträumen, wie zum Beispiel in der Manier eines Munch die Kohlezeichnung zweier Gespenster, die ihre Köpfe unterm Arm tragen. Mehr als peinlich wirkt darum, dass es „Kerr’s Creatures“ nicht einmal jetzt zum Jubiläum in einer deutschen Ausgabe gibt.

Abgesehen etwa von einem Geburtstagsvortrag der Kulturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Engländer, Biografin Alfred Kerrs, der demnächst im Jüdischen Museum Wien stattfindet, herrscht im deutschsprachigen Raum eher sonderbares Schweigen. Selbst in Berlin, dessen Ehrenbürgerin Judith Kerr doch ist. Ganz anders in Großbritannien. Dort gibt es zahllose Theater- und Musical-Versionen von Kerr-Geschichten für Kinder und Erwachsene, nicht zuletzt im Londoner Old Vic.

Das Seven Stories Museum, Großbritanniens National Centre for Children’s Books in der Küstenstadt Newcastle upon Tyne, hat gar eine ganze Etage freigeräumt, um Judith Kerr und besonders ihren Kater Mog zu feiern, unter dem Stichwort „mognificent“. Im Übrigen gibt es neuerdings auch eine bleibende Erinnerung, weil die originale Küche aus Judith Kerrs Haus im Londoner Stadtteil Barnes dort ihren dauerhaften Ort findet. Es ist, als würde die persönlich immer sehr herzliche Judith hier gleich wieder einen Tee kochen, sogar für den Tiger.

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