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 Filmregisseur Egar Reitz.

© / Foto: dpa/Harald Tittel

Edgar Reitz zum 90.: Wo die Türen immer offenstehen

Die „Heimat“-Filmzyklen machten ihn berühmt. Der Filmemacher Edgar Reitz hat das epische Geschichtenerzählen in Bildern erfunden, lange bevor das Streamen in Mode kam. Ein Geburtstagsgruß.

An der Haustür beginnt die Welt. Zu Hause in Morbach, dem Dorf im Hunsrück, in dem Edgar Reitz aufwuchs, war die Tür nie abgeschlossen. Im Uhrenladen des Vaters gingen die Menschen ein und aus und brachten ihre Geschichten mit, und die Mutter nähte Kleider und Hüte, damit auch der kleine Edgar beim Ausgehen was hermacht. Drinnen und draußen, das Private und die Öffentlichkeit, es war eins.

Der Filmemacher und Geschichtenerzähler Edgar Reitz ist immer ein Grenzgänger gewesen. Zwischen dokumentarischem Realismus und poetischer Fiktion, die schon der Großvater mischte, wenn er beim Erzählen wahre Begebenheiten ausschmückte. Reitz nennt es das „Großvater-Prinzip“. Später, im ersten „Heimat“-Zyklus von 1984, fiktionalisierte er seine eigene Familie und verlor in der Verwandlung ein Stück seines Lebens im Werk, wie er sagt. Vielleicht liegt deshalb Melancholie über seinen epischen Filmen.

Zunächst war da der Aufbruch, ein junger Mann, der vom Hunsrück nach München ging und beharrlich Grenzen überschritt, auch die zwischen Kino und Fernsehen. Die Idee zum „Heimat“-Epos hatte Reitz, als er 1979 die „Holocaust“-TV-Serie sah. Oder die Grenze zwischen Geschichte und Mythos, zwischen Schwarz- Weiß und Farbe, dem Ich und den Anderen. Die eigene Identität setzt sich aus dem Leben derer zusammen, die einen prägen, auch davon künden seine Filme.

Das Dramatische liege ihm nicht, meinte Reitz einmal im Tagesspiegel-Interview. Die Zuspitzung war nie seins, deshalb floppten seine frühen Werke nach ersten Festival-Erfolgen mit „Mahlzeiten“: „Der Schneider von Ulm“ (1978) brachte ihn an den Rand des Ruins. Aber seine Fantasie blühte auf, als er beim Erzählen nicht mehr auf den Schluss schaute. Reitz entdeckte den Zauber des Ausufernden.

30 Jahre hat er mit der Produktion von insgesamt 60 Stunden „Heimat“ zugebracht. Auf die zwölfteilige „Heimat“- Chronik folgten „Die zweite Heimat“ (1992) frei nach seiner studentenbewegten Zeit in München und an der Ulmer Hochschule für Gestaltung sowie „Heimat 3“ über die Wendejahre (2004), schließlich „Die andere Heimat“ (2012) über die Hunsrück-Auswanderer nach Brasilien – eine Hommage an alle Migranten und ihr Recht auf ein besseres Leben.

Dass Reitz mit seiner unverwechselbaren Mischung aus Unbekümmertheit und Geduld Barrieren überwand – für Serien lange vor dem Streaming, für einen archaischen Dialekt, den das Publikum versteht, oder ein Filmset, für das ein komplettes historisches Dorf gebaut wurde –, hat biografische Gründe. In seiner ebenfalls epischen, so detailfreudigen wie ins Universale ausgreifenden Autobiografie kann man sie jetzt nachlesen.

Reitz, Jahrgang 1932, konnte sich praktisch täglich neu erfinden, als der Krieg zu Ende war, wie viele seiner Trümmer-Generation. In München spazierte er in die Kamerafabrik Arri hinein und bekam prompt einen Job, weil er so eine Kamera mühelos zerlegen und wieder zusammensetzen konnte. Der Uhrmachersohn wusste um all die Rädchen und Schräubchen, die die bewegte Zeit im Innersten zusammenhalten.

Bald reiste er als Kameramann für Industriefilme um die Welt, ernährte so seine früh gegründete Familie, betrieb parallel eine Studiobühne, erfand mit Alexander Kluge (ebenfalls Jahrgang 1932) und anderen den Neuen Deutschen Film, gehörte zu den Verfassern des Oberhausener Manifests. Das altmodische Handwerk und der Pioniergeist, der Film als Kind des technischen Zeitalters und als Bilderkunst – auch diesen Gegensatz hat er nie akzeptiert.

Hommage an die Brasilien-Auswanderer aus dem Hunsrück: „Die andere Heimat“.

© / Foto: dpa/Concorde/Christian Lüdeke

Und er wusste ja bereits um das „Großvaterprinzip“, das Bruchstückhafte und die Tücken der Erinnerung. „Wir nehmen unser Leben in Besitz, indem wir es in Geschichten verwandeln und so unserem Bewusstsein hinzufügen“, sagt er. Aber die Zeit fließt unaufhörlich und hinter den Erinnerungen lauert das Vergessen, dieser Vorbote des Todes, schreibt er in „Filmzeit, Lebenszeit“.

Deshalb hasst Edgar Reitz das klassische Heimatfilm-Genre, das so tut, als könne es der Geschichte habhaft werden und als sei das Leben ein Plot. Das ihm einzig verfügbare Mittel gegen die Angst sei immer das Erzählen gewesen, das ewige Präsens des Films, diese unaufhörliche Folge flüchtiger Augenblicke, die die Angst um die verlorene Zeit nicht verdrängt. Darin liegt die Feinfühligkeit des Reitzschen Erzählens.

In „Die andere Heimat“ sitzt er in einer Szene als Hunsrücker Bauer am Wegesrand und schärft die Sense. Werner Herzog kommt als Alexander von Humboldt in der Kutsche vorbei und fragt nach dem Weg. Herzog, der nach Amerika ausgewanderte Abenteurer, Reitz, der zu Hause gebliebene Erzähler, der die Heimat immer als offenen Raum verstand, in dem die Welt ihren Platz hat: Der eine wurde gerade 80, Edgar Reitz feiert an diesem Dienstag seinen 90. Geburtstag. Beide haben dem deutschen Autorenfilm weite Horizonte geschenkt.

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