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In Edgar Reitz’ „Die andere Heimat“ träumt Jakob (Jan Dieter Schneider) von Südamerika.

© dpa

Filmfest Venedig: Das Leben ist kein Plot

1984 stellte der Regisseur Edgar Reitz in Venedig seine Hunsrück-Chronik "Heimat" vor. Jetzt präsentierte er auf dem Lido "Die andere Heimat", den vierten Teil seines Zyklus. Im Wettbewerb waren zudem neue Filme von Philip Gröning und Emma Dante zu sehen.

Edgar Reitz sitzt auf einem kleinen Sofa im Lido-Hotel „Quattro Fontane“, er hat leichte Kopfschmerzen, aber sonst geht es ihm bestens. Am Vorabend wurde gefeiert, nach der Uraufführung von „Die andere Heimat“, dem vierten Teil seines in den 80er Jahren gestarteten Heimat-Zyklus. Hier in Venedig fing es an, 1984, mit der ersten Hunsrück-Chronik. 1992 folgte die „Die zweite Heimat“ über die rebellische Jugend der Sechziger, 2004 dann Teil 3 über das wiedervereinigte Deutschland.

„Heimat“, ein Kultfilm: 60 Stunden ist der Zyklus über Schabbach und die Familie Simon nun lang, mit den HBO-Serien von heute kann er locker mithalten. Schon in den Neunzigern war Reitz davon überzeugt, dass das epische Erzählen ins Internet wandern wird. „Aber wenn ein Kinofilm nur lang genug ist, kann ich die Fesseln der Linearität ebenfalls abstreifen,“ meint er jetzt. Der 80-jährige Filmemacher hat etwas Lausbübisches im Blick: Für einen Moment verwandelt sich das im alpinen Chalet-Stil erbaute Hotel in einen Hunsrücker Bauernhof, mit grünen Fensterläden und roten Begonien.

Knapp vier Stunden dauert „Die andere Heimat“, Untertitel: „Chronik einer Sehnsucht“, eine Art Prequel zur Familiensaga der Simons. Deren Vorfahren wandern in den 1840er Jahren nach Brasilien aus. Die Reiselust erfasste sie nicht zuletzt wegen der preußischen Bildungsreform, 1815 wurde die Schulpflicht eingeführt. Wer lesen konnte, verschlang Literatur über ferne Länder und wusste, es gibt Besseres als den Hunsrück, die bittere Armut.

Deutschland ein Auswanderungsland, das Anatolien des 19. Jahrhunderts. Das verändert den Blick auf die heutige Einwanderung, sagt Reitz, auf Wirtschaftsflüchtlinge bei uns. Er entschied sich, mit der Kamera eben nicht die Auswanderer zu begleiten, die am Horizont der Cinemascope-Bilder in großen Trecks unterwegs sind, sondern diejenigen, die gehen wollen und nicht wegkommen. Schabbach 1842: Jakob Simon (Jan Dieter Schneider, eigentlich Medizin-Student), Sohn des Schmieds Johann (Rüdiger Kriese) und seiner Frau Margarethe (Marita Breuer, „Hermännchens“ Mutter in der ersten „Heimat“), studiert indigene Sprachen, schreibt Tagebuch über sein Fernweh. Ein schüchterner, vermeintlicher Taugenichts: Vom Vater wird er verprügelt, weil er schmökert, statt Pferde zu beschlagen, vom Bruder um das Mädchen betrogen, in das er sich verliebt.

Ein Historienfilm in Schwarzweiß, ein mal kräftiges, mal düsteres, mal fein nuanciertes, gleichsam dreidimensionales Schwarzweiß, mit symbolisch-verspielten Farbeinsprengseln. Und fast eine Doku-Fiction, für das Filmdorf wurde ein reales Dorf (Gehlweiler) auf historisch verwinkeltem Grundriss mit alten Materialien überbaut. Damit es kein Freilichtmuseum wird, sagt Reitz, er mag kein Kulissenkino. Und beharrt auf seine wunderbar eigene Art des Filmemachens, die Poesie und Sozialrealismus, Chronologie und Mythos in Einklang bringt. Reitz macht Kino für alle Sinne, ein Bilderfluss der Zeit, mit langem erzählerischen Atem und zärtlichem Respekt für jede der zahlreichen Figuren, deren Biografien in die Dorfgemeinschaft eingebettet sind – und in die Hunsrücker Landschaft.

Humor in eigener Sache entwickelt er auch. Eines Tages reist Alexander von Humboldt an, die Sprachkenntnisse dieses Privatgelehrten Jakob haben sich in Forscherkreisen herumgesprochen. Er fragt einen Bauern am Feldrand, wo es denn bitte nach Schabbach geht. Der Bauer und Humboldt, das sind Edgar Reitz und Werner Herzog, zwei Protagonisten des neuen deutschen Films. Der eine blieb hier, der andere ging in die Welt hinaus. Mit einem Augenzwinkern verewigen sie sich in der Filmgeschichte.

Realismus und Mythos, Körper und Seele, Dableiben, Weggehen, das sind Essenzen des Kinos, auch in den ersten Wettbewerbsfilmen am Lido. „Tracks“ von John Curran basiert auf der wahren Geschichte von Robyn Davidson (Mia Wasikowska), die in den 70er Jahren alleine die australische Wüste durchquerte, mit vier Kamelen und einem Hund. Ein etwas anderes Roadmovie: Robyn geht stur ihren Weg, will für sich bleiben. Nur der Film lässt sie nicht allein, behelligt sie mit dröhnendem Soundtrack und Reiseprospekt-Impressionen.

In Emma Dantes „Via Castellana Bandiera“ gibt es gleich zwei sture Frauen. Sie sitzen sich in einer engen Gasse in Palermo gegenüber, hinter dem Steuer ihrer Autos. Keine gibt nach, keine legt den Rückwärtsgang ein. So stehen sie Stoßstange an Stoßstange, die alte, verhärmte Samira, deren Familienclan in der Gasse wohnt, und Rosa (dargestellt von Regisseurin Emma Dante), die mit Lebensgefährtin (Alba Rohrwacher) in ihrer verhassten Heimatstadt zu Besuch ist. Dante verlegt das mythische Motiv vom Duell in der Sonne an den Schauplatz zahlreicher Mafiafilme und beinharter Sozialreportagen – mit ebenso beinhartem Dialekt. Ein Frauen-Western alla siciliana, mit vergeblich sich einmischenden Verwandten, Nachbarn, Freunden.

Regisseur Philip Gröning versucht das Gegenteil des epischen Erzählens: „Die Frau des Polizisten“ dauert drei Stunden und versammelt kurze Episoden zwischen durchnummerierten Schwarzblenden, Fragmente einer Geschichte von häuslicher Gewalt, seelischer Störung und Zerstörung. Eine Kleinstadt mit Backstein-Reihenhäusern, der junge Polizist Uwe (David Zimmerschied) muss auf Streife ein angefahrenes Reh erschießen und Unfalltote fotografieren, seine Frau Christine (Alexandra Finder) sorgt für die kleine Tochter. Eine symbiotische Mutter-Tochter-Beziehung, die nur noch enger wird, als Uwe seine Frau zu schlagen beginnt.

Tut er es aus Eifersucht? Regisseur Gröning („Die Terroristen“, „Die große Stille“) spart die Psychologie wie die Gewalt weitgehend aus, zeigt die Momente davor und danach, die blauen Flecken, das unmerkliche Zerbrechen der Mutter. Er verweigert das lineare Erzählen und bedient sich doch klassischer Kinotricks bei der Erzeugung von Spannung. Er leuchtet Innenwelten aus, verliert sich aber zunehmend im phantasmagorischen Raum von Angst und Schuldkomplexen. Auch wenn der Zuschauer am Ende weniger über häusliche Gewalt als über Grönings Stilmittel begriffen hat, entfalten seine Tagtraumbilder dennoch große Zartheit und Nähe. Wie sagt Emma Dante? Das Leben ist kein Plot – und der Film ein Stück Leben.

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