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Massen im Matsch. Aber sie waren glücklich damals, eine halbe Million auf dem Gelände Woodstocks. Das Konzert wurde zum Mythos.

© imago/United Archives

Die wilden Siebziger: Hippies, Helter Skelter, Vokuhila

Es begann im Sommer 1969 mit Woodstock. Und so richtig war es nie zu Ende: Zwei neue Bücher untersuchen das wilde Jahrzehnt der 70er.

Das Zeitalter der Liebe begann mit Lärm, Matsch und zu vielen Menschen. Eine halbe Million Besucher versammelten sich im August 1969 auf den Kuh- und Schafswiesen in der Nähe eines zwei Autostunden von New York entfernten Orts, der zum Synonym der Hippiebewegung werden sollte: Woodstock. Das 300-Seelen-Nest war dem Ansturm nicht gewachsen. Der Verkehr brach zusammen, es gab nicht genug Essen und Toiletten, Stars wie Jo Cocker, Carlos Santana oder Crosby, Stills, Nash & Young mussten per Hubschrauber eingeflogen werden. Es regnete in Sturzbächen, die Menschen versanken im Schlamm und wurden immer bekiffter und glücklicher.

Als die meisten Fans schon wieder abgereist waren, stand Jimi Hendrix auf der Bühne und bedankte sich: „Ihr habt alle sagenhaft viel Ausdauer – drei Tage lange habt ihr’s ausgehalten! Ihr habt der Welt gezeigt, was ein bisschen Liebe, Verständnis und Musik ausrichten können.“ Dann ließ er seinen Hit „Voodoo Child“ in „The Star-Spangled Banner“ übergehen, die US-Nationalhymne, und zerlegte sie im Feedbackgetöse seiner E-Gitarre.

In den Rückkopplungen und Verzerreffekten schwang das Echo des Vietnamkriegs, der Bürgerrechtskämpfe und Studentenproteste mit. Woodstock markiert einen magischen Moment der Popgeschichte. Bei allem Chaos war das Happening friedlich geblieben, die Ära eines neuen, besseren „Wir“ schien angebrochen zu sein. „An diesem einen Wochenende im August, zu einer Zeit, zu der es in unserem Land ziemlich hoch herging, zeigten wir uns von unserer besten Seite und schufen – wenn auch nur für kurze Zeit – genau die Art von Gesellschaft, nach der wir uns alle sehnten“, schreibt Michael Lang, der Cheforganisator des Festivals, in seinen Memoiren, die zum 50-jährigen Jubiläum nun auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen (Michael Lang mit Holly George-Warren: Woodstock. Die wahre Geschichte vom Macher des legendären Festivals. Edel Verlag, Hamburg 2019. 381 Seiten, 24,95 €)

Schönheit und Macht der Gegenkultur

Woodstock steht für die Schönheit und die Macht der sogenannten Gegenkultur, aber auch für ihre Abgründe. Ein Jahr nach seinem legendären Auftritt starb Jimi Hendrix, als einer der ersten großen Drogentoten des Rock ’n’ Roll. Ihm sollten weitere Woodstock-Veteranen wie Janis Joplin, Tim Hardin oder der Who-Drummer Keith Moon folgen. „Früher waren wir nur wenige“, hatte Joplin bei ihrem Auftritt gesagt. „Jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.“ Allerdings handelte es sich bei diesen Massen nahezu ausschließlich um junge Menschen zwischen zwanzig und dreißig mit weißer Hautfarbe. Woodstock, diese vermeintliche Zukunftsvision einer friedliebenden, weltumspannenden Gemeinschaft, war nicht sehr divers. Unter den 33 Bands und Soloartisten auf der Festivalbühne waren Richie Havens, Sly & the Family Stone und Jimi Hendrix die einzigen Afroamerikaner.

Auch „Das entfesselte Jahrzehnt“, Jens Balzers Kulturgeschichte über den „Sound und Geist der 70er“ (Jens Balzer: Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er. Rowohlt Berlin 2019. 431 Seiten, 26 €), beginnt mit der Urszene von Woodstock. Der Musikjournalist, der lange bei der „Berliner Zeitung“ arbeitete und heute für die „Zeit“ und den „Rolling Stone“ schreibt, kam im Woodstock-Jahr 1969 zur Welt. Er beschreibt die prägenden Jahre der Rock- und Alternativkultur mit der Distanz eines Nachgeborenen, der gleichwohl von ihrer Experimentierlust fasziniert ist. Für ihn liegt die Wahrheit von Woodstock im „verklärenden Mythos“, bei dem sich Wunschdenken und Nostalgie mischen.

Pop hatte seine Unschuld verloren

Die Nostalgie begann bereits 1970, als Michael Wadleighs epischer Dokumentarfilm „Woodstock“ ins Kino kam. Mythen ähneln Märchen, oft erweisen sie sich als naiv. Das Altamont-Festival, ein Gratiskonzert in der Nähe von San Francisco mit Hippiebands wie Grateful Dead und Jefferson Airplane, sollte im Dezember 1969 den Love-&-Peace-Geist von Woodstock an die Westküste bringen. Als die Rolling Stones ihre Hymne „Sympathy for the Devil“ spielten, kam es zu Schlägereien vor der Bühne. Ein Mitglied des Motorradrockerclubs Hells Angels, der für den Sicherheitsdienst engagiert war, erstach einen 18-jährigen afroamerikanischen Zuschauer.

Zwei Monate zuvor war im Death Valley bei Los Angeles Charles Manson verhaftet worden. Der Sektenführer schien, so Balzer, „direkt aus der Mitte der Hippiegemeinschaft“ gekommen zu sein. Bevor er zum Massenmörder wurde und Mitglieder seiner Kommune in die Villa des Filmregisseurs Roman Polanski schickte, um dort dessen schwangere Ehefrau Sharon Tate und vier weitere Opfer umzubringen, hatte er Folksongs geschrieben, von denen einer auf einer Platte der Beach Boys herauskam. Mit Mansons Verbrechen wurde die heitere Seite des Hippietums zu Grabe getragen. Pop hatte seine Unschuld verloren. Aber war Pop jemals unschuldig?

Manson stieg zur Inkarnation des Bösen auf

Balzer zieht eine Linie von der „gespenstischen Gammler-Sekte“, wie der „Spiegel“ Mansons „Family“ nannte, zur bleiernen Zeit des westdeutschen Terrorismus. Am Tatort hatte die Bande Parolen hinterlassen, die mit dem Blut der Opfer geschrieben waren: „Helter Skelter“, „Rise“, „Pig“, „Death to Piggies“. Tod den Schweinchen. Sie gehen auf Beatles- Songs zurück, in denen Manson Aufrufe zum Umsturz erkannt zu haben glaubte. „A Pig is a Pig ... The Pig Must be Offed!“, heißt es auch auf einem Flugblatt, mit dem die „Bewegung 2. Juni“, ein Westberliner Vorläufer der „RAF“, auf einem Flugblatt für ihre Anschläge wirbt. Manson, der sich in der Haft ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowiert, steigt zur Inkarnation des Bösen auf und bleibt bis zu seinem Tod 2017 ein morbides Popidol. Er erhielt bis zu 60 000 Briefe und E-Mails im Jahr, Guns N’ Roses covern einen seiner Songs. Auch Quentin Tarantinos neuer Film „Once Upon a Time in Hollywood“ spielt vor dem Hintergrund der Manson-Morde.

„Das entfesselte Jahrzehnt“ handelt von den hellen und dunklen Seiten des Pop. Balzer ist ein exzellenter Kenner von Comics, ScienceFiction, Computerspielen und Musik auch der abseitigsten Art. Er erzählt von den Anfängen der Discomusik im schwulen New Yorker Untergrund und vom Punkrock, der in Großbritannien ein Aufstand lumpiger Nietenlederjacken-Proletarier gegen das politische Establishment war, es in Deutschland aber nie über den Status des Funpunk hinausbrachte. Aber er weiß auch, auf welchem Album ein satanistisches Motto in die Auslaufrille geritzt wurde („Led Zeppelin III“), wie die Vokuhila-Frisur in England hieß („Mullet“) und warum die Beatles nicht das Fantasy-Kultbuch „Herr der Ringe“ verfilmen durften. J. R. R. Tolkien mochte ihre Musik nicht.

Ein anderes Leben ist möglich

Die Jahre nach Woodstock gelten als Ära, in der der Aufbruchgeist der Studentenrevolte im K-Gruppen-Gezänk und esoterischer Weltflucht versackte. Doch damals wurden Utopien ausprobiert und buchstäblich Alternativen gefunden. Balzer fasst den Zeitgeist in einen Hoffnungssatz: „Ein anderes Leben ist möglich“. Balzers besondere Wertschätzung gilt dem Krautrock und insbesondere dem Schaffen der Kölner Gruppe Can. In ihren bei stundenlangen Jamsessions entstandenen Spontankompositionen entwickelte sich eine Zukunftsmusik, in der sich, so Balzer, „das Technische und das Improvisierte, das Materielle und Spirituelle“ auf nahezu magische Weise begegnen.

Den Großstar David Bowie hingegen stößt Balzer in seinem meinungsstarken und pointierten, oft in die Gegenwart springenden Epochenporträt vom Denkmalsockel. Der Sänger, der seinen Durchbruch in der Kunstfigur des futuristischen, androgynen Ziggy Stardust schaffte und anschließend immer neue Rollenspiele erfand, benutzte gerne Elemente faschistoider Ästhetik. Den Thin White Duke, sein Alter Ego von 1975/76, beschrieb Bowie als „sehr arischen Möchtegern-Romantiker mit absolut keinen Gefühlen“, er ließ sich mit einer Armbewegung ablichten, die an den Hitlergruß erinnert, und sagte in einem Interview: „Ich wäre ein verdammt guter Hitler gewesen“. Als bloße Provokation mag Balzer das nicht entschuldigen, er sieht darin eine „rechtsradikale und rassistische Wendung“. Wenn das nicht selber schon wieder eine Provokation ist.

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