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Kultur: Die Legende von Paula

Rendezvous zum 100. Todestag: Worpswede erinnert an die große Malerin Modersohn-Becker

Plötzlich ist der alte Ärger wieder da. Der Hotelier von gegenüber beschwert sich lautstark. Der benachbarte Gastronom fragt ebenso vernehmlich hinüber: Bitteschön, was ist denn daran Kunst? Gemeint ist die Performerin im kurzen Kleidchen, die mit den Absätzen ihrer Stiefeletten die Buchstaben P-A-U-L-A in die Grasnarbe gräbt. In Worpswede gehen die Uhren anders, dort blieb die Zeit irgendwann in den Zwanzigern für viele stehen. Damals gab es aber auch die Gattung Performance noch nicht.

Das berühmte Dorf im Moor, eine halbe Autostunde von Bremen entfernt, spielt noch immer Künstlerkolonie, auch wenn die große Zeit längst vorüber ist. Exakt einhundert Jahre liegt sie zurück, denn am 20. November 1907 starb hier Paula Modersohn-Becker, die berühmteste Worpswederin – und Wegbereiterin der Moderne in Deutschland. Aus Anlass dieses runden Todesjahrs zelebriert sich das Künstlerdorf noch einmal selbst. Im Herbst folgt Bremen mit den großen Ausstellungen termingerecht, Worpswede aber nimmt mit seiner Jubelfeier schon den Sommer mit. Mutig steigt es in die Zeitmaschine, fährt zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor und zurück. Mal erinnert es hingebungsvoll an die authentischen Wirkungsorte der großen Malerin, mal lässt es heutige Künstler ihr Verständnis der Worpsweder Legende präsentieren.

Kein Wunder, dass so mancher Dorfbewohner plötzlich gar nichts mehr versteht und sein Unbehagen ausgerechnet an der Hamburger Performance-Künstlerin Herma Auguste Wittstock auslässt. Die aber kratzt davon unberührt weiter mit dem Absatz ihre Buchstaben in die grüne Wiese vor dem Künstlerhaus, das einmal das Armenhaus Worpswedes war und die bevorzugten Modelle der Modersohn-Becker beherbergte. Drinnen, in dem Giebelhaus, ist die aktuelle Ausstellung „We are Paula“ zu sehen.

Im hintersten Raum befindet sich eine Fotoarbeit von Else Gabriel, die eigentlich, auf acht mal acht Meter vergrößert, mitten im Dorf hätte hängen sollen. Doch das gefiel dem Bürgermeister gar nicht gut. Denn die Berliner Künstlerin zeigt auf dem Bild ihren blanken Hintern, drumherum bläht sich ein weiter Rock wie Blütenblätter um die Dolde. Auf den ersten Blick erinnert die Aufnahme an eine Blume mitten auf dem Feld, ein Landschaftsbild der etwas anderen Art. „Mooning the Art World“ hat die Künstlerin ihr Werk genannt in Erinnerung an die Kämpfe um Anerkennung, die Modersohn-Becker zeitlebens in der Kunstwelt auszutragen hatte. Jetzt zeigen sie es gemeinsam all den anderen – Paula und ihre Widergängerin.

Und doch reist der Besucher nicht nach Worpswede, um die ambivalenten Gefühle heutiger Künstlerinnen in Sachen Legendenbildung zu besichtigen. Nein, hier will er in erster Linie die Modersohn-Stätten kennenlernen und das einstige Flair erspüren. Zum 100- Jahr-Gedächtnis flattern an all diesen Orten grüne Fahnen mit der gelben Aufschrift „Leben!“. Mit den gleichen schwungvollen Lettern findet sich das Wort in den Tagebüchern und Briefen der Künstlerin immer wieder. „Dieses unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das Schönste im Leben“, notiert die Schreiberin an einer Stelle. Zehn Jahre lang hat es sie zwischen dem stillen Worpswede und dem aufregenden Paris hin- und hergerissen; endgültig zurückgekehrt ins Moordorf, starb sie mit 31 Jahren kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes.

Diese Zerrissenheit setzt sich fort bis in die Gegenwart; auch die schönsten Re-Inszenierungen können sie nicht überbrücken. Am besten gelingen die atmosphärischen „Lebens“-Räume dort, wo nichts vorgegaukelt, sondern mit authentischem Material gearbeitet wird. Denn Worpswede ist ein Kuriosum: Einerseits besitzt es die historischen Orte, das Atelier, das Wohnhaus, Heinrich Vogelers berühmten Barkenhoff, wo sich sonntags die „Familie“ zum Musizieren, Debattieren, Rezitieren traf, wie sich der Freundeskreis von Paula Becker, Otto Modersohn, Rainer Maria Rilke und seiner späteren Frau Clara Westhoff nannte. Andererseits sind Fotodokumente, Gemälde, Briefe und Tagebücher überliefert, die Originalpalette, selbst der grün gemusterte Fayence-Teller, den der Bildbetrachter von den Stillleben her kennt. Doch Orte und Objekte wollen nicht zueinander kommen. In Worpswede gibt es beides fast nur getrennt: entweder Gehäuse oder Inhalt.

Ins berühmte Lilienatelier lässt sich etwa nur durchs Fenster blicken, darin ein gewöhnliches Bücherregal, irgendwelche Bilder, Tisch und Stühle. Der Brünjeshof, in dem die Künstlerin ihre „liebste Stube“ unterhielt, befindet sich in privater Hand und ist nicht öffentlich zugänglich. In der Kunsthalle dagegen wird eben dieses Atelier rekonstruiert, mit seinen grün-blauen Wänden und den namengebenden Lilienvorhängen. Dazu ein Bett, eine Staffelei, Bücher, Stilllebenrequisiten, wie sie die Künstlerin benutzt haben könnte, und ein Paar Schlittschuhe, denn Paula Modersohn- Becker liebte Ausflüge auf dem Eis. Das wirkt zwar liebevoll gemacht, bleibt aber Kulissenschieberei. Wie viel mehr spricht dagegen aus den acht kleinen Zeichnungen Otto Modersohns, die kurz nach der Jahrhundertwende entstanden, als das Paar frisch verheiratet war: kuriose Szenen aus dem Leben seiner eigensinnigen Gattin, deren Hut in Paris Aufsehen erregte, oder wie sie ins eigene Atelier durchs Fenster einstieg.

Diese Schlingerfahrt in die Vergangenheit wiederholt sich auch im Barkenhoff, dem Worpsweder Künstlertreff und Refugium Heinrich Vogelers. Das heutige Museum leerte sich, als Martha Vogeler ihren Mann verließ, der in die Sowjetunion emigrierte und dort verstarb. Die berühmten Vogeler-Jugendstilmöbel, das von ihm entworfene Geschirr, das selbst gestaltete Tafelsilber, die vielen Memorabilien nahm sie 1920 mit ins Haus im Schluh, das heute unweit des einstigen Familiensitzes liegt und einer Stiftung gehört. Im Barkenhoff ist deshalb als Ersatz ein wandgroßer Scherenschnitt zu sehen, der mithilfe einer Soundcollage an die gemeinsamen Sonntage im weißen Salon erinnern soll. Rilke trägt neueste Gedichte vor; Paula, die an Dutt und markanter Nase zu erkennen ist, erwidert darauf enthusiasmiert: „Das berührt mich ganz im Innern; das könnte ich gleich noch einmal hören.“ Der Besucher dieses bizarren Künstler-Puppenheims nimmt derweil auf Hockern Platz, die in schönster Schreibschrift die Namen der Protagonisten tragen, und wundert sich.

Wie stark die Modersohn-Becker in Originalzitaten ist, lässt der aktuelle Beitrag von Karo Kollwitz und Holger Beisitzer erahnen, die an den Schauplätzen Soundinstallationen anbrachten. Worpswederinnen deklamieren dort auf Knopfdruck Passagen aus Tagebuch und Briefen, die von der Willensstärke, aber auch der inneren Vereinsamung der großen Malerin sprechen. Doch wären diese Knöpfe nur nicht an „Zitzen“ – halb Euter, halb Busen – angebracht, wie das Künstlerduo seine Bronzemultiples nennt; die Wendung ins Kuriose ist vorprogrammiert.

So hat der Worpsweder Besucher immer wieder die Wahl, ob er bei diesem Revival der freiwillig oder der unfreiwillig komischen Seite zuneigt. Während ein Freilufttheater auf dem Barkenhoff- Gelände eine fiktive Begegnung von Paula Modersohn-Becker und Frida Kahlo inszeniert, die in diesem Jahr 100. Geburtstag hat, organisierte die russische Künstlerin Julia Kissina eine spiritistische Sitzung und trat allen Ernstes mit Paula in Kontakt. Ob sie nach Worpswede wiederkommen wolle, wurde sie gefragt. Die Antwort lautete zur Überraschung aller Teilnehmer eindeutig: „Ja!“

Leben! Bis 24. 2. Informationen unter www.paula-in-worpswede.de

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