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Die Installation der türkischen Künstlerin Nil Yalter an der Front des Ladenlokals der Initiative "Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt".

© Silke Briel

Die 12. Berlin Biennale: Rhetorik des Kopfstands

Die 12. Berlin Biennale ist politischer denn je und gibt sich doch etabliert. Eine Ausnahme sind die Ausstellungsorte Stasi-Zentrale und „Dekoloniale“.

Den Charme der Berlin Biennale hat eigentlich immer ihr Ausströmen in die Stadt ausgemacht: angefangen 1996 mit der Premiere, als entlang der Auguststraße leerstehende Räume für die Kunst gekapert wurden. Von dort schwärmte die Biennale mit jeder neuen Ausgabe weiter aus: besetzte temporär ein leerstehendes Kaufhaus in Kreuzberg, ließ sich auf einer Brache im ehemaligen Grenzstreifen nieder oder bespielte die geräumten Museumssäle in Dahlem.

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Damit verband sich stets eine Aussage zur aktuellen Situation der Stadt, der zunehmenden Gentrifizierung, dem Verlust an Freiräumen und den kulturellen Verschiebungen. Diesmal hält sich das in Deutschland nach der Documenta wichtigste Kunstevent des Jahres mit einem Kommentar hier zurück, indem es seine Ausstellungsorte in etablierten Institutionen unterbringt: in den Kunst-Werken, den beiden Häusern der Akademie der Künste und dem Hamburger Bahnhof. Denn das Thema in diesem Jahr, der Kolonialismus, greift weiter aus, die Biennale rückt inhaltlich ab von Berlin, was sich auch als Zeichen ihres Erwachsenwerdens deuten lässt.

Kader Attia schickt die Besucher nach Lichtenberg

Umso interessanter sind die beiden Ausnahmen, die Außenposten der Biennale: die Stasi-Zentrale in Lichtenberg und die Initiative „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“. Sie zoomen direkt ans Ausstellungsthema heran, ohne dabei in die Berlin-Seligkeit früherer Biennalen zu verfallen. Die Standorte erinnern daran, dass Kolonisierung kein Kapitel der Vergangenheit oder anderer Kontinente ist, sondern eine Erfahrung, die vielen Menschen auch mit der Wiedervereinigung verbinden.

Kurator Kader Attia stößt mit der Nase darauf, wenn er die Biennale-Besucher zur Stasi-Zentrale nach Lichtenberg schickt. Nur zeigt er dort gerade keine Arbeiten, die diesen Komplex künstlerisch aufarbeiten würden. Die Gebäude – das ehemalige Offiziersspeisehaus samt Konferenzsaal und der Sitz der Hauptabteilung XX, in dem sich heute das Stasi-Unterlagen-Archiv befindet – sind sprechend genug, samt der Freiluftausstellung im Innenhof zur Geschichte des Ortes.

Ngo Thanh Bacs Fotoserie ist komisch, poetisch, entlarvend

Stattdessen ist hier von Ngo Thanh Bac die Fotoserie „Kopfstand“ zu sehen, für die sich der in Hanoi lebende Künstler in exakt dieser Position vor politische Denkmale stellte, etwa die Statue Lenins, eines Kaisers aus dem 11. Jahrhunderts und eines Arbeiterhelden mit geballter Faust. Das erinnert ans „Studium der Perspektive“ von Ai Weiwei, der seinen gereckten Mittelfinger vor politischen Institutionen fotografierte, als Aufforderung zur Selbstermächtigung. Ngos Performance ist komischer, poetischer, aber nicht weniger entlarvend in einem kommunistischen Land.

Das Kollektiv Forensic Architecture arbeitet dagegen knallhart mit Zahlen und Fakten, um Missstände zu entlarven. Sein Siegeszug in den Großausstellungen der Welt bis hin zur Nominierung für den Turner Prize hat mit seiner ebenso ästhetischen wie luziden Übersetzung zu tun. Ein weiteres Meisterstück ist hier Susan Schupplis Videoarbeit „Ausgesetzt und erfroren in Kanada“, die dem Mord an einem 17-Jährigen der First Nations im Jahr 1990 nachgeht.

Es dauerte Jahre, bis der Polizeimord am 17-Jährigen aufgeklärt war

Der Junge wurde von der Polizei aufgegriffen, misshandelt und fern der Stadt in die Kälte geworfen, eine unter Beamten auch als „Starlight Tour“ bezeichnete Praxis. Nüchtern rekonstruiert der Film die Temperaturen der Nacht, die Wege der Streife. Eine Zeitleiste hält fest, wie lange es dauerte, bis der „Cold Case“ gegen die Widerstände der Polizei erneut aufgenommen wurde. Eine kühle und doch empathische Bestandsaufnahme des Verbrechens.

Bei der Eröffnung hatte Kader Attia angemahnt, mehr Gefühl zuzulassen. Das steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch zu den Biennale-Arbeiten, die eher distanziert tragische Momente der Geschichte behandeln. Gerade dadurch geben sie jedoch Raum für Anteilnahme. Umso direkter geht Nil Yalters Beitrag an der Fensterfront der Initiative „Dekoloniale Erinnerungskultur“ zu Herzen. Hinter dem Glas hängen die Fotografien türkischer Frauen und Kinder, die die Künstlerin in den 1970er Jahren interviewte. Mit roter Farbe ließ sie darüber die Worte „Exil ist harte Arbeit“ in Arabisch und Türkisch schreiben, ein Zitat aus einem Gedicht von Nazim Hikmet.

[Stasi-Zentrale, Ruschestr. 130, Mi bis Mo 11 – 18 Uhr. „Dekoloniale Erinnerungskultur“, Wilhelmstr. 92, bis 18.9.; https://12.berlinbiennale.de/de/]

Auch hier ist der Biennale-Beitrag keine einfache Fortschreibung des Ortes. Er besitzt seine eigene Ausstrahlung. Die Initiative „Dekoloniale Erinnerungskultur“ ließ sich gezielt an der Wilhelmstraße nieder, denn unweit in der Hausnummer 77 hielt Bismarck 1884/85 in der Reichskanzlei die Kongo-Konferenz ab, auf der die Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten. Die Konsequenzen prägen den Kontinent bis heute dramatisch. Erst langsam begreift Europa seine Verantwortung und auch die bis vor die eigene Haustür reichenden Folgen. Die 12. Berlin Biennale unter dem Titel „Still Present“ macht Druck.

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