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Sergej Lawrow 2022 beim Dinner während des G20-Gipfels im Kulturpark Garuda Wisnu Kencana in Badung auf Bali.

© dpa / WILLY KURNIAWAN

Der Globale Süden des Kreml: Schlacht der Narrative

Russland nutzt antiwestliche Rhetorik zur Manipulation einstiger Kolonien des Westens

Von Caroline Fetscher

Afrikas Sonne bereitete Sergey Lawrow einen warmen Empfang. Einträchtig reichten Russlands Außenminister und Südafrikas Außenministerin einander beide Hände zur Begrüßung. Seine Amtskollegin Naledi Pandor, zitronengelb und geblümt gewandet, empfing Russlands Außenminister in der Hauptstadt Pretoria Ende Januar 2023.

Sie pries Russland als ein „friendly country“. Er erinnerte an die sowjetische Solidarität im Kampf gegen die Apartheid. Auf dem Podium mit Pandor, gesäumt von russischen wie südafrikanischen Flaggen, betonte Lawrow Russlands Bereitschaft zum Frieden. Konflikte würden „leider meist von unseren westlichen Kollegen vom Zaun gebrochen“, die auch „Russophobie“ verbreiteten.

Eine ehemalige Kolonie lädt eine mörderische Kolonialmacht ein.

User der Website WION

Ein Bericht des indischen Fernsehsenders WION (World is One News) zu Lawrow in Pretoria erntete online überschwängliche Kommentare. „Willkommen in Afrika, Mister Lawrow“, schrieb ein User. Ein anderer versprach: „Ob bei Wind oder Sturm, wir sind mit dir, Russland!“, während eine Nigerianerin anmerkte: „Afrika hat westlichen Nonsens satt.“ Einsam blieben da die Zeilen: „Ein Land, dass sich vom Kolonialismus erholt, lädt eine mörderische Kolonialmacht zu einem gemütlichen Treffen ein, das wirkt bizarr!“ 

Südafrikas Präsident Ramaphosa will seinen Staat als „neutral“ verstanden wissen. Gar so neutral ist man dort freilich nicht. Ende Februar 2023 trafen russische Marineschiffe, die das Kriegssymbol „Z“ trugen, an der Küste vor Durban zu einem Manöver mit chinesischen und südafrikanischen ein. Das seien ganz normale Vorgänge unter befreundeten Nationen, wiegelte Pretoria ab. Außenministerin Pandor bekundetet, der Appell, den russischen Angriffskrieg zu verurteilen sei „infantil“.

Propaganda auf der internationalen Bühne 

Hier bewirtschaftet Russland nicht erst seit Kriegsbeginn antiwestliche Affekte und postkoloniale Narrative, inzwischen oft auf der internationalen Bühne. Im November 2022 präsentierte sich Lawrow auf der indonesischen Insel Bali beim Gipfel der G-20-Staaten im folkloristisch anmutenden, Lila und Blau durchwirkten Batikhemd. Auf dem G-20-Gipfel Anfang März 2023 erklärte er, der Westen müsse „seine neokolonialen Gewohnheiten“ aufgeben.

Nicht alle Staaten der Südhemisphäre tragen die Sanktionen gegen Russland mit. Auch aus Angst vor steigenden Preisen nutzen sie eher die Gunst der Stunde: Wenn der Westen nicht kauft, kriegen wir billig Öl und Gas, Getreide und Düngemittel - nach der Pandemie ganz besonders willkommen. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar bekannte pragmatisch, Öl und Gas müsse für sein Land im Zentrum des Interesses stehen. Da half es auch nichts, dass das internationale Publikum laut loslachte, als Lawrow bekundete, Russland versuche in der Ukraine, den Krieg zu beenden, der „gegen uns angezettelt“ worden sei.

Die schwarz-weiße Klaviatur des Kalten Krieges

Tatsache ist: Den wenigsten im Süden ist die Ukraine überhaupt ein Begriff, Russland jedoch sehr wohl. Mit Aplomb stellt Russland westliche Demokratien als Erben des Imperialismus der Kolonialära dar, und sich selber in der Nachfolge der Sowjetunion, die für Dekolonisierung einstand. Heute spielt Russland auf der schwarz-weißen Klaviatur des Kalten Krieges die Melodien des Postkolonialismus. Aus dem Ost-West-Antagonismus ist ein Nord-Süd-Antagonismus geworden. In der Trivialversion heißt das: Schwarze im Globalen Süden als Opfer der Weißen des Globalen Nordens. Und bei diesem Diskurs werden mitunter Menschenrechte und Demokratie als westliche Werke in einen Wok geworfen.

Als die Generalversammlung der UNO Anfang April 2022 darüber abstimmte, Russland vom Menschenrechtsrat zu suspendieren, prangerte der russische Delegierte Gennady Kuzmin den „Menschenrechts-Kolonialismus“ des Antrags an. 24 UN-Mitglieder hielten zu Russland, darunter China, Nordkorea, Syrien, der Iran und Simbabwe. Zu den 58, die sich enthielten, zählten Südafrika, Angola, Kamerun, Botswana, Pakistan, Brasilien, Indien, Thailand, Malaysia und alle arabischen Staaten.

Kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, am 21. Februar 2022, beteuerte Wladimir Putin in einer Rede in Moskau: „In der modernen Welt sollte es keine Unterteilung in ´zivilisierte´ Länder und den ganzen Rest geben.“ Amerikas Militärstützpunkte bedeckten „den ganzen Planeten“, der Westen gebe doppelt so viele Milliarden Dollar für den Krieg aus als für arme Länder. Die Ukraine werde als „Geisel der Besatzer des prowestlichen Regimes“ ausplündert. Auf dem Gender-Gelände gibt sich Putin als Hüter der Tradition, dem die Familie mit Mann und Frau noch, „wie allen Weltreligionen“, heilig ist.  

Antikoloniale Rhetorik, Waren, Sicherheitsversprechen: Das ist die Trias des russischen Angebots an den Süden. Und sie verfängt, ohne dass die Rede ist von der wahren Konfrontation, von Demokratie versus Autokratie. 141 UNO-Mitglieder stimmten für Resolutionen, die Russland zum sofortigen Beenden des Krieges auffordern. Nur eine Handvoll Diktaturen gingen mit Russlands Nein einher, wie Syrien, das sich von der Militärhilfe des Kreml abhängig gemacht hat. Enthalten aber haben sich jeweils etwas mehr als 30 Staaten, viele südliche, auch mächtige wie Indien und China. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hatte Frankreichs Präsident Macron erklärt, er sei „schockiert, wie viel Glaubwürdigkeit wir im Globalen Süden verlieren“. 

Der Subsahara-Staat Mali hat sich, wie Burkina Faso, statt französischer Peacekeeper die berüchtigte, russische Söldnertruppe „Wagner“ ins Land geholt, Privatmiliz des Unternehmers Jewgeni Prigoschin, der auch Ortskräfte, etwa im Sudan, in Mosambik oder Mali, für lokale Netz-Propaganda anheuert. In Westafrika trendet eine Video-Animation, die muskulöse, schwer munitionierte Wagnersöldner in Mali und Burkina Faso als Retter vor „französischen Zombies“ zeigt. „Wir brauchen die Russen!“ ruft ein Afrikaner den Zombies zu. Und: „Nieder mit Frankreich!“

Ein Propaganda-Video der russischen Söldnertruppe „Wagner“ trendet in Westafrika. Wagner-Milizen bekämpfen darin Seite an Seite mit Afrikanern französische Zombies.

© Screenshot Tagesspiegel

Beobachtet wird auch das Erstarken der Russisch-Orthodoxen Kirche in Afrika, die demnächst eine Gemeinde in Burundi eröffnet – dem Land, das sich bei Presse- und Meinungsfreiheit auf einem der hintersten Ränge weltweit befindet. Flankiert wird Russlands Krieg der Narrative von medialem Einfluss. Allein in Lateinamerika hat der staatliche russische Medienkanal RT Español 18 Millionen Follower. Via Radio und Websites erreicht er das Publikum in 31 Sprachen, auch auf Chinesisch, Arabisch, Türkisch und Serbisch. Es bräuchte, so sagen Experten wie Jessica Brandt vom US-Thinktank Brookings Institution, weitaus mehr westliche Forschung zur russischen Desinformation im Süden.

Russlands Version des Postkolonialismus

Russlands Rolle als Imperialmacht gegenüber dem Kaukasus, Zentralasien, Polen, Finnland oder dem Baltikum wird von der postkolonialen Forschung bisher kaum beleuchtet, wie der in den USA lehrende Slawist Vitaly Chernetsky erklärt. Erst recht nicht rückte ins Bewusstsein, dass gerade die Ukraine ein Paradebeispiel für ein wiederholt kolonisiertes Territorium darstellt - es mangelte der „Provinz“ das rassistische Merkmal der anderen Hautfarbe.

Russland erachtet seine Geschichte als die einer Selbst-Kolonisierung, ein schlichtes Ausweiten russischen Territoriums seit den Reformen von Peter dem Großen, mit dem Putin sich bereits verglichen hat. Dieser Auffassung, so die Analyse des russischen Kulturwissenschaftlers Alexander Etkind, gilt ein Prozess der Dekolonisierung für Russland als „logisch unmöglich“.

Das betrifft auch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014. Mit der Krim hatte der Krieg gegen die Ukraine begonnen, mit der Frage nach der Krim dürfte er enden. Die Krim, heißt es inzwischen, könnte bei Verhandlungen mit Russland als Unterpfand dienen. Doch ein solcher Deal würde erhebliche Risiken bergen und Putins kolonialen Appetit eher bestätigen. Behält er das Gebiet, warnen westliche Militärs, blieben auch die strategisch wichtigen Militärbasen bestehen, Garantien für die Sicherheit hätten weder die Ukraine noch internationale Investoren, die der Wiederaufbau der Ukraine brauchen wird.

Eine demilitarisierte Krim unter internationaler Aufsicht allerdings böte dem Kreml wenig Anreiz für Verhandlungen. Einstweilen bedient er weiter antikoloniale Reflexe, um sein koloniales Ansinnen zu legitimieren. Die Frage wird sein, inwieweit es der demokratischen Diplomatie gelingt, dieses Paradox zu entlarven und gerade im Süden an die Prinzipien des Völkerrechts zu erinnern, die Russland ohne Skrupel missachtet.

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