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Die deutsche Autorin Valeria Gordeev.

© dpa/Gerd Eggenberger

Update

Darstellung einer Putz-Neurose: Valeria Gordeev gewinnt Ingeborg-Bachmann-Preis 2023

Die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur wurden mehr denn je von der Literaturkritik geprägt. Anna Felnhofer, Martin Piekar und Laura Leupi bekamen die übrigen Preise von der Jury zugesprochen.

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Es hat schon zügigere, trotzdem spannendere und vor allem transparentere Abstimmungen und Preisverleihungen beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gegeben. War in den vergangenen Jahren von jedem einzelnen Jury-Mitglied bekanntgegeben worden, welchen Autor, welche Autorin es für den Bachmann-Preis favorisiert, und zwar vor allen anderen Preisen, gab es dieses Jahr eine geheime Abstimmung nach Punkten und zuletzt die Verkündung des Bachmann-Preises. Der Spannung wegen. Nun ja.

Nachdem also Laura Leupi und Martin Piekar gleichauf für den 3-Sat-Preis und den Preis eines österreichischen Stromunternehmens gelistet und jeweils geehrt worden waren, nachdem Anna Felnhofer endlich den zweiten Preis, den Deutschlandfunk-Preis für ihr Opferporträt „Fische fangene“ entgegen genommen und einige Freudentränchen vergossen hatte, am Klagenfurter Himmel hatten da lange die Wolken wieder der Sonne Platz gemacht, nachdem dann noch Martin Piekar wie erwartet seinen zweiten Preis, nämlich den Publikumspreis für seine körperlich raumgreifende und von einem plötzlichen Schrei begleitete Lesung zugesprochen bekommen hatte, wurde die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2023 gekürt. Sie hatte 19 Punkte von der Jury bekommen im Vergleich zu 18 für Anna Felnhofer. Es ist die 1986 in Tübingen geborene Berliner Autorin Valeria Gordeev.

Keine Überraschung im Grunde. Gordeevs Text über einen Putzneurotiker und seine „Emergency Room“ schauende jüngere Schwester war einer der besten des Wettbewerbs, formal beglückend mit wunderbar langen, rhythmischen und sehr genau den Putzfimmel ihres Helden beschreibenden Sätzen; inhaltlich etwas weniger repräsentativ für den Wettbewerb als andere Texte. Die Auszeichnung jedenfalls ist ein Versprechen auf die Zukunft. Man kann sich sicher sein, dass Gordeev nicht nur dem Putzen des Abflusses einer Spüle ein formschönes literarisches Gewand zu verleihen vermag.

Kein Preis für Yevgeniy Breyger

Sehr überraschend aber war, dass der Lyriker Yevgeniy Breyger ohne Preis blieb mit seinem starken Prosatext „Die Lust auf Zeit“. Wie Felnhofers Geschichte, in der der Ich-Erzähler vergeblich versucht, seinen Peinigern Gesichter zu verleihen, beginnt Breyger mit einer Gesichtsbeschreibung: „Ich habe es mir hart erlebt“. Um dann mit dem Warten des Protagonisten vor dem Krankenzimmer seines nach einem Schlaganfall daniederliegenden Vaters in die Tiefe der Zeit abzutauchen, virtuos die zeitlichen Ebenen zu verschränken, zwischen den Generationen zu pendeln, aber auch immer die Möglichkeit von Glück in Erwägung zu ziehen.

Ein seltsames Preisverweigerungsgebaren - so wenig gegen Piekars Text über die Beziehung eines Sohnes zu seiner polnischen Mutter spricht, so absehbar der Preis für Leupis experimentellen Essay über sexuelle Gewalt in Form eines Alphabets mit ein paar erzählerischen Einsprengseln war. Letztere Entscheidung ist eine vor allem politische, gesellschaftspolitische, weniger literaturkritische - denn wer wiederum kann sich dieser von Leupi tatsächlich facettenreich und klug reflektierten, ja durch und durch skandalösen Thematik verweigern?

Das geht leichter mit einem Text, in dem es auch um die Zeit, um die Suche und das Spiel mit ihr geht. Die Nichtberücksichtigung Breygers weist daraufhin, wie es in der Jury nicht nur der Show und der Unterhaltsamkeit vor den Kameras halber ordentlich geknirscht hat. Am letzten Lesetag, am Ende der Diskussion über Laura Leupis „Alphabet der sexualisierten Gewalt“, brach es aus der Juryvorsitzenden Insa Wilke schwer heraus.

Dieser Text erreicht mich nicht

Die Literaturkritik sei patricharchal geprägt, ereiferte sie sich, „Kategorien wie Körper, Empathie und Ethik“ würde es im Feuilleton nicht geben, noch weniger als in der Wissenschaft. Der Grund: die Einwände, die Philipp Tingler gegen Leupis Text vorbrachte. Dieser, so Tingler, betreibe selbst eine „Fetischierung von Begriffen“, leide unter einem „Moralisierungsüberschuss“ und verwende „die Sprache tendenziell totalitär“.

Wilke hatte zuvor schon ihrem Ärger ironisch Ausdruck verliehen, als sie sagte, dass Tingler ihr immer wieder erkläre, wie Literaturkritik gehe und Klaus Kastberger ihr das Wort im Mund verdrehe: her mit dem Hammer! Geärgert hatte sie sich, dass ihre Begeisterung über den von ihr ausgewählten Breyger-Text wieder von Tingler nicht geteilt wurde. Er meinte: „Dieser Text erreicht mich nicht.“

Das wiederum zielte in diesem Fall auf das Niveau, auf dem die Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Neujurorin Mithu Sanyal den Texten begegnete: emotional („Ich kann keinen emotionalen Kontakt zu den Figuren aufbauen“), mit Tränen gar, also mit purer Empathie.

Ob Wilke diese Art von Literaturkritik wirklich gut findet? Sie das mit Körperlichkeit (wie setzt man wiederum Körperlichkeit literaturkritisch ein?), Empathie und Ethik meint? Ausgerechnet Wilke, die eine kluge, genaue Hardcore-Analytikerin von „Texten“ ist, um es mal patriarchal zu sagen, die nur manchmal etwas arg viel in diese reinliest?

Sanyal erinnerte jedenfalls manchmal sehr an Elke Heidenreich. Selbst wenn das von ihr bevorzugte identifikatorische Lesen nie ausgeschlossen werden kann - jeder Leser, jede Leserin erschafft sich ein Buch neu, wusste ja auch Marcel Proust: Der Literaturkritik letzter Schluss kann Sanyals Zugang nicht sein, nicht ihre Zukunft.

Achtsamkeitsprosa

So wurde dieser 47. Bachmann-Wettbewerb mehr denn je von den Diskussionen der Jury geprägt, eben weil sich ideologische Gräben auftaten: feministische Literaturkritik versus patriarchale, aber auch Kastberger versus Tingler. Der Literaturbegriff war so weit gedehnt wie lange nicht. Die Texte etwa von Jayrome C. Robinet, Sophie Klieeisen, Jacinta Nandi oder Anna Gien bewegen sich auf Grenzen zwischen Befindlichkeits- und Achtsamkeitsprosa, Journalismus und Aktivismus, Abstraktion und Konkretion. Hybridliteratur. Am Ende gewannen mit „Es putzt“ und „Fische fangen“ trotzdem die sprachlich fein gearbeitetsten, literarischsten, typischsten Bachmann-Preis-Texte. Nur „Die Lust auf Zeit“ eben nicht.

Es schien, als spielten die Autorinnen und Autoren die kleinste Rolle. Obwohl die Jury sie fast durchweg für ihren Vortrag lobte. Und obwohl sie der blasse Moderator Peter Fässlacher jeweils am Ende der Lesungen fragte, ob sie noch was sagen wollten. Wollten sie fast nie, außer Jacinta Nandi, die sagte, es müsse eine Kinderbetreuung für Alleinerziehende geben. Das war gar nicht so lustig gemeint, wie es rüberkam, hatte aber auch etwas Bezeichnendes.

Doch, der Literaturkritik tut der Bachmann-Wettbewerb gut. Wo kann sie sich sonst noch so austoben? Im Grunde repräsentiert die Literaturkritik im Bachmannpreis-Fall das, was in der Literatur gerade geschrieben wird: Sie sorgt für die Auswahl der Texte, akut trenden Familiengeschichten, Eltern-Kind-Beziehungen, transgenerationelle Traumata. Aufmerksamkeitsökonomisch hilft dieser Wettbewerb der Literatur, ansonsten wird sie sowieso geschrieben. Und wie ist es in Klagenfurt? Die Stadt visiert zielsicher das 50-jährige Ingeborg-Bachmann-Preis-Jubiläum an, im Jahr 2026. Am Sonntagnachmittag aber regnete es kurzzeitig wieder heftig. Das Wetter bleibt unbeständig.

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