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Ein Ausschnitt aus Barbara Yelins Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.

© Barbara Yelin

Künstler-Aktion zu Auswirkungen der Gewalt im Nahen Osten: Gezeichnete Dialoge über die Folgen des Terrors

Unter der Frage „Wie geht es Dir?“ laden renommierte Comiczeichner dazu ein, sich über die Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf Israel und des Krieges im Gazastreifen auszutauschen. 

Ausgerechnet Ravensbrück. Als vor knapp drei Monaten die Terrororganisation Hamas in Israel ihre Anschläge verübt, ist die Holocaust-Überlebende Emmie Arbel gerade zu Besuch in Deutschland. Hier erzählt sie seit Jahren als Zeitzeugin immer wieder von ihren Erlebnissen als junges Mädchen. Als sie vier war, deportierten die Nationalsozialisten sie und ihre jüdische Familie, lediglich Emmie und ihr Bruder überlebten die Konzentrationslager, ihre Mutter starb in Ravensbrück an den Folgen der KZ-Haft und der Unterernährung.

Wegen des Ausnahmezustands in Israel nach dem 7. Oktober 2023 verzögert sich Arbels geplante Heimreise um einige Wochen. Sie findet eine vorübergehende Unterkunft im einstigen Gästehaus der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück – in ebenjenem Gebäude, in dem einst die Aufseherinnen wohnten, die über sie und ihre Mutter wachten und sie misshandelten. „Es ist verrückt, dass ich mich gerade an diesem Ort sicher fühle“, schreibt Arbel einige Wochen nach dem 7. Oktober in einer Textnachricht an die Zeichnerin Barbara Yelin, die kurz zuvor Arbels Lebensgeschichte in dem Buch „Die Farbe der Erinnerung“ verarbeitet hat.

Ein Ausschnitt aus Barbara Yelins Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.
Ein Ausschnitt aus Barbara Yelins Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.

© Barbara Yelin

Emmie Arbels Erlebnisse nach dem 7. Oktober hat Yelin nun in einem neuen Comic verarbeitet, der von diesem Dienstag an online zu lesen ist. In zwölf Panels schildert die in München lebende Künstlerin, die vielfach für ihr Werk ausgezeichnet wurde und einige Jahre auch für den Tagesspiegel gearbeitet hat, wie die 86-Jährige die Zeit nach dem Hamas-Überfall erlebt hat – und wie sie sich seitdem immer wieder fragt, ob Israel noch ihr Zuhause ist.

Yelins in skizzenhaftem Buntstift-Strich gezeichneter Kurz-Comic ist einer der ersten Beiträge für ein Projekt über die Folgen des 7. Oktobers, das die Zeichnerin zusammen mit einigen Kolleginnen und Kollegen initiiert hat und das jetzt mit organisatorischer Unterstützung des Internationalen Comic-Salons Erlangen online gestartet ist. Der Salon wird alle zwei Jahre vom Kulturamt der Stadt Erlangen veranstaltet und gilt als das wichtigste deutschsprachige Comicfestival.

Jede Woche wird ein neuer Comic veröffentlicht

Unter dem Titel „Wie geht es Dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“ wollen die Initiatorinnen und Initiatoren ihr Mitgefühl für die Opfer des Angriffs vor knapp drei Monaten und des darauf folgenden Krieges zum Ausdruck bringen und zu einem Dialog über dessen Folgen einladen.

„Der grauenhafte Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und die schrecklichen Ereignisse seither machen uns fassungslos“, heißt es in der Einführung auf der Website wiegehtesdir-comics.de. „Zu erfahren, dass sich jüdische Menschen in Deutschland isoliert und bedroht fühlen, dass sie wieder vermehrt Angst haben müssen, weil sie Juden und Jüdinnen sind, erschüttert uns zutiefst.“ Zudem sehe man „mit Schrecken, dass auch Muslimfeindlichkeit und rassistische Diskriminierungen zunehmen“. Rechtsextremismus, Hass und Hetze würden „immer sicht- und spürbarer, dennoch herrscht oftmals Sprachlosigkeit“.

Die Initiative zu dem Projekt kam neben Barbara Yelin von den Zeichnerinnen und Zeichnern Hannah Brinkmann, Nathalie Frank, Michael Jordan, Moritz Stetter und Birgit Weyhe. Jede Woche soll ein neuer Comic auf der Website veröffentlicht werden, zahlreiche weitere Künstlerinnen und Künstler haben bereits ihre ehrenamtliche Teilnahme zugesagt.

Mir ist wichtig, dass wir als Zeichner:innen nicht schweigen zu Dingen, die so wichtig sind und gleichzeitig so polarisieren.

Comiczeichnerin Birgit Weyhe

Die Beiträge sind als künstlerischer Dialog mit Menschen konzipiert, die mit Antisemitismus und anderen menschenfeindlichen Ideologien sowie Diskriminierung konfrontiert sind, heißt es in der Ankündigung. So wie im Beitrag von Birgit Weyhe. Die Hamburger Zeichnerin, die 2022 mit dem Max-und-Moritz-Preis als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin ausgezeichnet wurde und ebenfalls einige Jahre für den Tagesspiegel gearbeitet hat, hat sich für ihren Kurzcomic mit Lily Horn unterhalten, der Urenkelin zweier Hamburger Juden, die 1938 aus ihrer Heimat vertrieben und im NS-Vernichtungslager Treblinka nördlich von Warschau ermordet wurden.

Ein Ausschnitt aus Birgit Weyhes Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.
Ein Ausschnitt aus Birgit Weyhes Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.

© Birgit Weyhe

„Momentan fühle ich mich definitiv nicht sicher“, sagt Horn in einem der 16 Panels von Weyhes Comic, der semirealistische, mit klaren Linien gezeichnete Bilder mit grafischen Symbolen wie einer Friedenstaube oder schwarzen Schlieren als Metapher für Gewalt und Traumata kombiniert. Horn kannte viele Menschen, die am 7. Oktober bei dem Überfall auf das Nova-Music-Festival gefoltert und ermordet wurden, berichtet sie. Nach dem Terrorangriff, bei dem mehr als 1100 Menschen durch Hamas-Terroristen getötet wurden, hätten ihr viele Menschen aus ihrem Freundeskreis ihr Mitgefühl ausgesprochen – und dann auf sozialen Medien Aussagen wie die gepostet, dass Israel den Angriff verdient habe.

Lily Horn wirbt dafür, in Zeiten wie diesen einander zuzuhören und echtes Mitgefühl füreinander zu entwickeln. Auf einem Bild zeigt Weyhe auch eine Szene der Zerstörungen im Gazastreifen durch die israelische Militäraktion, die auf den 7. Oktober folgte, davor eine Palästinenserin und ein Palästinenser, die ihre wenigen geretteten Habseligkeiten in Stoffsäcken tragen. Darüber sind Horns Worte zu lesen: „Was meine palästinensischen Freunde angeht, die ebenfalls einen großen Verlust erlitten haben, so tut es mir aufrichtig leid und ich fühle mit ihnen.“

„Mir ist an der Aktion wichtig, dass wir als Zeichner:innen nicht schweigen zu Dingen, die so wichtig sind und gleichzeitig so polarisieren“, erklärt Birgit Weyhe ihre Motivation zu dem Projekt. „Wenn nur geschwiegen wird, aus Angst etwas falsch zu machen, ist niemandem geholfen.“ Durch die Darstellung einer Vielzahl von Stimmen hoffe man, „die Komplexität der Emotionen abbilden“ zu können.

Michael Jordan hat das Startbild für die Website des Projekts gezeichnet.
Michael Jordan hat das Startbild für die Website des Projekts gezeichnet.

© MICHAEL JORDAN

Der Überfall vom 7. Oktober und die darauf folgende Militäraktion Israels im Gazastreifen haben in den vergangenen Monaten die Comicszene ebenso polarisiert wie den Rest der Gesellschaft, in Deutschland wie international. Bei vielen Zeichnerinnen und Zeichnern ist derzeit auf ihren Social-Media-Kanälen zu sehen, dass sie sich für eine selektive Sichtweise auf den Konflikt entschieden haben und die Erlebnisse und Empfindungen der anderen Seite ausblenden. Während manche vor allem das Leid der israelischen Opfer, der immer noch verschwundenen 130 Hamas-Geiseln und ihrer Familien nach dem 7. Oktober thematisieren, liegt bei anderen der Fokus auf den Folgen der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen mit bislang etwa 20.000 Todesopfern.

Vor dem Hintergrund ist das Projekt „Wie geht es Dir?“ ein bemerkenswerter Vorstoß, jenseits der Polarisierung miteinander ins Gespräch zu kommen. An der Vielfalt der Rückmeldungen aus der Comicszene wird sich zeigen, wieweit die Initiative Erfolg hat. „Die Resonanz unter den Zeichner:innen war gemischt“, sagt Birgit Weyhe kurz vor dem Start der Aktion. „Viele haben Interesse, aber teilweise nicht die Zeit oder das finanzielle Polster, um so einen Beitrag ohne Bezahlung zu stemmen.“ Viele hätten aber auch sofort zugesagt und sich eine Person zum Dialog gesucht. „Bisher hat niemand, soweit ich weiß, aus inhaltlichen Gründen abgesagt.“ Es gab allerdings jüdische Zeichnerinnen und Zeichner, „die momentan selbst emotional zu angefasst sind, die eventuell später mitmachen wollten“.

Der dritte Beitrag, der zu Beginn des Projekts auf der Website veröffentlicht wurde, stammt von Nathalie Frank. Die in Frankreich geborene und in Berlin lebende Kulturjournalistin und Kuratorin hat sich in jüngster Zeit auch als Künstlerin und Comicautorin einen Namen gemacht. So ist kürzlich ein Beitrag von ihr im Sammelband „Gerne würdest du allen so viel sagen“ erschienen, der sich mit ihrer deutsch-jüdischen Familiengeschichte beschäftigt.

Ein Ausschnitt aus Nathalie Franks Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.
Ein Ausschnitt aus Nathalie Franks Beitrag zu „Wie geht es dir? Zeichner:innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“.

© Nathalie Frank

In ihrem aktuellen Beitrag für „Wie geht es Dir?“ erzählt Frank in filigranen, stilsicheren Linien eine in vier Panels verdichtete Episode aus der Jugend ihrer Großmutter Ruth, die die einzige Jüdin in ihrer Schulklasse war. Als ein Mitschüler die Lehrerin fragt: „Was bedeutet ,Juden’?“, fordert die Lehrerin Ruth auf, es zu erklären. Ihre schlagfertige Antwort nach einem kurzen Schockmoment: „Es sind Menschen wie alle anderen auch.“ Darunter der Satz der Autorin, der die Intention des Projekts auf den Punkt bringt: „Ich wünsche mir, dass sich heute kein Kind in diesem Land aufgrund seiner kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit bedroht fühlen muss.“

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