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Existenzielle Naturerfahrung. Huang Yan ließ sich 1999 von seiner Frau unter dem Titel „Tattoo, No. 7“ eine klassische Landschaft auf den Leib malen.

© Fondation INK

Chinesische Landschaftskunst: Der Fluss färbt sich blutrot

Sehnsucht Natur: Das Zürcher Rietberg Museum präsentiert chinesische Landschaftskunst – ein Vorbild für deutsche Häuser.

Die Illusion hält nur für einen kurzen Moment: steil in die Höhe ragende, hintereinander gestaffelte Berge, dazwischen Wolken und Wasserfälle, die sich sturzbachartig nach unten ergießen. Man kennt die Motive zur Genüge aus der traditionellen chinesischen Landschaftmalerei. Doch dann donnert ein Flugzeug von oben rechts durch das Bild. Und plötzlich erweist sich, dass darin ganz viel in Bewegung ist, die Berge aus akkumulierten Hochhäusern bestehen.

Bei genauerer Betrachtung sind auf einmal Kräne auszumachen, die sich drehen, zwischen den Hochhaus-Bergen schieben sich auf mehrspurigen Straßen Autos im Stau aneinander vorbei, im Hintergrund kreuzen Frachter.

Yang Yongliang hat eine digitale Collage geschaffen, die verblüffend der klassischen Malerei gleicht. Ihm ist damit ein Übersprungswerk gelungen, das Tradition und Moderne augenzwinkernd verbindet und doch nicht zum Schmunzeln einlädt.

Der Videokünstler übt knallharte Kritik an der ökologischen Katstrophe in Chinas Städten, der Zersiedelung, dem industriellen Raubbau. Den westlichen Betrachter erstaunt dabei neben der technischen Raffinesse vor allem, dass er sich als Mensch der Gegenwart ausgerechnet der alten Codes bedient.

Der 40-Jährige, der zunächst Tuschemalerei studierte, steht damit nicht allein. Die Ausstellung „Sehnsucht Natur – Sprechende Landschaften in der Kunst Chinas“ im Zürcher Museum Rietberg zeigt zum ersten Mal in Europa historische und zeitgenössische Werke zusammen und arbeitet überraschende Analogien heraus.

In der Landschaft bildet sich die Psyche des Menschen ab

Von wegen Landschaft war gestern – was chinesische Künstler seit vielen hundert Jahren umtreibt und offensichtlich noch immer reizt, erfreut sich in Zeiten von Corona plötzlich großer Nachfrage. Landflucht, Rückzug, Idylle – diese Themen haben wieder Konjunktur.

Eigentlich war die Ausstellung für Mai geplant, musste dann wegen der Pandemie verschoben werden und wirkt nun aktueller denn je. Auf Diskurshöhe befindet sie sich ohnehin. Dafür sorgt seit November nicht zuletzt die neue Direktorin Annette Bhagwati, die zuvor am Berliner Haus der Kulturen kuratorische Forschungs- und Langzeitprojekte leitete.

Wer bei der Anthropozän-Debatte immer noch nicht verstanden hat, worum es geht, bekommt in Zürich eine Chance, einzusteigen: Mensch und Landschaft wurden in der chinesischen Kunst immer schon als Einheit gesehen.

In der Landschaft bildet sich die Psyche des Menschen ab, das kennt der Westen bereits von der romantischen Malerei. Aber in China verschmilzt beides, das Funktionieren eines Staates, das Wohlergehen seiner Bürger hat sein Ideal in der Natur.

Von dieser existenziellen Nähe handelt auch Huang Yans „Tätowierung Nr. 7“, für die er sich von seiner Frau eine Landschaft auf Brust, Arme und Hände malen ließ. Zwei Kiefern beginnen in Bauchhöhe zu sprießen, die Wipfel eines Gebirges reichen fast bis zu seinen Schultern. Auf einer Hand findet sich die obligatorische Strohhütte, auf der anderen meditiert ein Gelehrter.

Rückzug in die Natur

Die von Kim Karlsson und Alexandra von Przychowski kuratierte Ausstellung verwebt geschickt alte und neue Kunst, indem sie kapitelweise vorgeht zu den Themen Sehnsucht, Dichtung, Reiselust und Alte Meister.

Landschaft diente in China seit jeher als Zufluchtsort, Projektionsfläche – ob einst auf Fächer gepinselt oder aktuell mit einem Tuschestift in feinen Lineaturen auf handgeschöpftes Papier gebracht. So malte Qian Gong Anfang des 17. Jahrhunderts einen Klassiker, einen Pfirsichblütenbaum, dessen Bedeutung bis heute in China jeder versteht.

Die Legende handelt von einer heilen Welt, in der Mensch und Tier harmonisch miteinander leben. Nur gibt es keinen Weg dorthin zurück, weil der Entdecker den Pfirsichblütenbaum, der als Markierung für den Eingang ins gelobte Land diente, nicht mehr wiederfindet.

Der heute 51-jährige Yao Jui-chung hatte mehr Glück. Nach einem Burn-out zog sich der taiwanesische Medienkünstler in die Hochebene Schottlands zurück, wo er in der Einsamkeit der Natur die traditionelle Malerei für sich entdeckte. Jui-chung interpretiert sie jedoch neu: Seine Hütte über dem Nebelmeer ist ein golden glühendes Liebesnest, in dem sich ein Teufelchen vergnügt, Jui-chungs alter ego. Fortan ging es dem gestressten Künstler besser.

Der Künstler nimmt die Vogelperspektive ein

Wie viel Freiheit auch in der traditionellen Landschaftsmalerei steckt, demonstriert Mei Qings Serie „Berühmte Ansichten von Xuangcheng“, die er im 17. Jahrhundert für einen Präfekten schuf, der versetzt wurde und an seinen neuen Einsatzort ein Album zur Erinnerung mitnehmen wollte. Jedes der 24 Blätter ist anders gestaltet: Mal nimmt der Künstler die Vogelperspektive ein, mal rückt er ganz nahe heran.

[Museum Rietberg, Zürich, bis 17 .1.; Katalog (Hatje Cantz) 42 €. Die Recherchen zum Text wurden durch die Stadt Zürich unterstützt.]

Beim Blick in ein Flusstal setzt er den Pinselstrich großzügig ein, bei der Ansicht einer Bergpassage arbeitet er fein ziseliert. Sein Bravourstück befindet sich heute im Besitz des Museums. Die meisten der über 80 Werke in der Ausstellung aber sin d Leihgaben aus privaten Sammlungen wie von Uli Sigg oder von Museen wie dem Rijksmuseum in Amsterdam.

Solches Pathos ist im Westen kaum vorstellbar

An der Ausstellung überrascht vor allem die Kontinuität des künstlerischen Motivs Landschaft. Selbst ein Performer wie Wang Jin erweist ihr noch seine Reverenz. 2001 schüttete er in der Provinz Henan Pigmente in den Rote-Fahne-Kanal, der als eines der größten staatlichen Bewässerungsprojekte zwischen 1959 und 1969 entstand. Wie ein Derwisch steht der langhaarige Künstler im Morgenlicht auf einer Brücke und kippt die Pigmente als purpurrote Wolke ins Wasser.

Ein dramatischer Moment, ein symbolischer Akt, in dem Wirtschaftswege und die Symbolfarbe des Kommunismus wie zu einer Blutbahn zusammenfinden. Ein solches Pathos ist in westlichem Kontext kaum vorstellbar, auch wenn es hierzulande ebenfalls künstlerische Aktionen mit eingefärbten Flussläufen gab.

Das Humboldt Forum könnte hiervon lernen

Chinesische Landschaftsdarstellungen bedienen bis heute Codes, vermitteln Botschaften, die immer noch Dringlichkeit besitzen. Diese Erkenntnis bestätigt zugleich das Ergebnis einer ähnlich zwischen Tradition und Gegenwart angelegten Ausstellung vor fünf Jahren, für die sich Kim Karlsson und Alexandra von Przychowski die Kalligrafie vorgenommen hatten.

Das Rietberg Museum geht andere Wege als üblicherweise Ethnologische Sammlungen, es stellt neue Verbindungen her, sucht frische Ansätze. Die in der Villa Wesendonk in einem Park über dem Zürcher See untergebrachte Sammlung umfasst Artefakte aus Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien und der Schweiz, das Haus versteht sich als Kunstmuseum.

Was deutschen ethnologischen Museen noch schwerfällt, gehört zu den Grundüberzeugungen des Museums. Die anvertrauten Werke sind zuallererst von Künstlern geschaffen, dann erst kommt der Kontext. Das Humboldt Forum könnte davon lernen.

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