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Der 1939 geborene Franz Erhard Walther blickt auf ein sechs Jahrzehnte umfassendes Lebenswerk zurück.

© FEW/Norbert Miguletz

Besuch bei Franz Erhard Walther: Ein abenteuerliches Künstlerleben

Franz Erhard Walther, 2017 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, wurde hierzulande lange missverstanden. Seit acht Monaten fungiert die Villa Franz Erhard Walther nun als Ort des Austauschs.

Von Dorothea Zwirner

Außerhalb von Fulda ist die vor acht Monaten eröffnete Villa „Franz Erhard Walther. Collection Seng“ bisher nur Insidern bekannt. Die Geburtsstadt und Stiftung des hessischen Ausnahmekünstlers haben nach jahrelangen Bemühungen einen intimen Ort geschaffen, an dem man die experimentellen Anfänge seiner künstlerischen Praxis nachvollziehen kann. Bis heute verblüffen die radikale Offenheit und Freiheit seiner Werkkonzeption, die zunächst Materialprozesse und später die Betrachter*innen aktiv in die Werkentstehung miteinbezieht.

Im Rückblick auf ein sechs Jahrzehnte umfassendes Lebenswerk, für das Franz Erhard Walther 2017 mit dem Goldenen Löwen der Biennale Venedig geehrt worden ist, setzt automatisch ein Prozess der Historisierung und Legendenbildung ein, den der 83-jährige Künstler immer noch lebhaft mitzugestalten weiß.

Zeichenkunst als Leitstern

In der sanierten Gründerzeitvilla nahe dem historischen Paulustor empfängt er mit rotem Schal gemeinsam mit seiner Ehefrau Susanne Walther, die als Vorstandsvorsitzende der Stiftung und Co-Kuratorin des Hauses alle Fäden in der Hand hält. Am selbst entworfenen Holztisch vergehen die Gesprächsstunden wie im Flug.

Im Rückblick erscheinen Lebensweg und Werkentwicklung des kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geborenen Künstlers, der nach seiner Emeritierung 2006 an seinen Geburtsort zurückgekehrt ist, wie ein einziges Abenteuer voll vehementer Ablehnungen, überraschender Wendungen, unwahrscheinlicher Zufälle und glücklicher Fügungen. Dabei bildete die zeichnerische Begabung das hohe Fundament für den Sprung in unbekanntes Neuland.

Gleichzeitig war sie der Leitstern, der aus den frühen Werkzeichnungen ebenso hervorleuchtet wie in seinem handgeschriebenen und gezeichneten Roman „Sternenstaub“. 526 Blätter umfasst der monumentale Werkzyklus, mit dem Walther rückblickend die Schlüsselmomente seiner Werkgenese zur autobiografischen Erzählung verdichtet hat.

Dazu gehören Kindheitserinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit in Fulda, die elterliche Bäckerei, ein Stockwerk darüber der eigene Rückzugsort zum Zeichnen. Dort entsteht mit einer Reihe von schematisierten Umrisszeichnungen 1956 zum ersten Mal die vage Vorstellung, die Betrachter*innen zu aktivieren, die Binnenfläche imaginativ zu füllen.

Rückzugsort über der Bäckerei

„Vielleicht haben mich die Ausstechförmchen aus der Bäckerei dazu inspiriert“, mutmaßt der Künstler beim gemeinsamen Rundgang durch die Villa. Statt den elterlichen Bäckereibetrieb zu übernehmen, geht der 17-Jährige an die Werkkunstschule Offenburg, wo er mehr als zweihundert Wortbilder produziert. „BILD“ steht da etwa in gelben Versalien als Musterfall eines Vorstellungsbildes.

Installation von Franz Erhard Walther im Arsenale bei der Eröffnung der 57. Venedig-Biennale 2017
Installation von Franz Erhard Walther im Arsenale bei der Eröffnung der 57. Venedig-Biennale 2017

© Getty Images/Franz Erhard Walther, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023

Doch es geht ihm nicht um typografische Gestaltung. In einer Reihe von 24 fotografischen Selbstporträts unternimmt der 18-Jährige den „Versuch, eine Skulptur zu sein“, um Bild- und Körpervorstellungen miteinander zu verbinden. Gegenwartskunst kennt er bis dato nur durch amerikanische Kunstzeitschriften, die er über die Besatzungsmacht bezieht. Umso einschneidender ist sein Besuch auf der 2. Documenta 1959, bei der er zum ersten Mal die Werke von Jackson Pollock, Barnett Newman und Lucio Fontana im Original bestaunt.

Beuys wittert Konkurrenz

1959 wechselt er an die Städelschule in Frankfurt, wo er mit seriellen Papierklebungen und Nesselstoff zu experimentieren beginnt. Aus dem am Informel orientierten Malprozess wird ein Materialprozess, der auf völliges Unverständnis stößt und zur Exmatrikulation führt. Auch an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo Walther in der Klasse von Karl Otto Götz zusammen mit Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg weiterstudiert, reagieren die Kommilitonen eher skeptisch auf seine geklebten Hand- und Körperstücke aus Stoff, mit denen sie eine Kissenschlacht veranstalten.

Als er auch noch anfängt zu nähen, heißt es spöttisch: „Jetzt hat der Walther umgesattelt auf Schneider.“ Geradezu feindselig begegnet ihm Beuys, der wohl Konkurrenz auf dem Gebiet erweiterter Kunstbegriffe wittert und eine erste Ausstellung bei Alfred Schmela zu verhindern weiß.

Es fehlten damals noch völlig die Begriffe.

Franz Erhard Walther über seinen Kunst-Gedanken

Ablehnung, Rivalität und Spott sind jedoch eher Ansporn und Bestätigung für den selbstbewussten Künstler, der 1967 beschließt, mit seiner ersten Frau Johanna, die bis heute seine Werke näht, und den zwei Söhnen nach New York zu gehen. Im Handumdrehen lernt er dort alle wichtigen Künstler von Walter de Maria über Richard Artschwager bis Barnett Newman kennen und arbeitet weiter an seinen Werkstücken.

Mit 30 Jahren im MoMA

Sogar Duchamp ruft an, um ihn kennenzulernen, stirbt jedoch, kurz bevor ein Treffen zustande kommt. Dann geht es Schlag auf Schlag. Kaspar König kommt vorbei und realisiert 1968 mit Franz Erhard Walther die erste Publikation des Verlags Gebr. König mit dem Titel „Objekte, benutzen“, die Galerieausstellungen bei Heiner Friedrich in München und Rudolf Zwirner in Köln samt ersten Verkäufen an die Sammlung Ströher und das Museum in Krefeld nach sich zieht.

Die Villa Franz Erhard Walther in Fulda.
Die Villa Franz Erhard Walther in Fulda.

© Stadt Fulda/jo

1969 folgen Einladungen zu zwei legendären Gruppenausstellungen: Harald Szeemanns „When attitudes become form“ in der Kunsthalle Bern und die „Spaces“-Ausstellung im New Yorker MoMA, wo der 30-jährige Newcomer aus Deutschland seinen 1. Werksatz vorführt. Voll Empörung kommentiert die „Welt“ damals: „Wo die Kunst heute hingekommen ist, kann man daran zeigen, dass dem deutschen Künstler Franz Erhard Walther in dem berühmten MoMA ein Sackhüpfen erlaubt wird.“

Was seinerzeit auf Skepsis und Widerstand stieß, macht heute die kunsthistorische Bedeutung und singuläre Position von Walther aus, für die er mit seinem 58-teiligen 1. Werksatz die Grundlage geschaffen hat: der Stoff als unverbrauchtes und modellierbares Material, die Handlung als Werk, der menschliche Körper als Werkbestandteil.

Mentor von Kippenberger

Und die Lager-, Werk- und Handlungsform als verschiedene Zustände eines umfassenden Werkbegriffs, in dessen Zentrum der frei handelnde Mensch steht. Anders als in der Performance und der Aktionskunst bedarf es dafür keines Publikums, denn die reale Handlung kann auch imaginativ zur Möglichkeitsform werden.

„Es fehlten dafür noch völlig die Begriffe“, erinnert sich Franz Erhard Walther heute. Seine klare und präzise Diktion entwickelt sich erst allmählich während seiner Professur an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Von 1971 bis 2005 hat er dort so unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler wie Rebecca Horn, Martin Kippenberger, John Bock, Santiago Sierra, Christian Jankowski und Jonathan Meese unterrichtet, ohne dabei sein eigenes Werk zu vernachlässigen.

Vier Mal auf der Documenta

Hier entstehen gleich zu Anfang die „Stand- und Schreitbahnen“ des 2. Werksatzes, die „Schreit- und Standstücke“ der 1970er Jahre, die farbigen „Wandformationen“ der 80er Jahre, der 3. Werksatz von 26 auf die Buchstaben bezogenen „Körperskulpturen“ der 90er Jahre und schließlich die 55 mehrteiligen „Handlungsbahnen“.

Trotz regelmäßiger Ausstellungen des vierfachen Documenta-Teilnehmers hat erst in den vergangenen Jahren eine neue Auseinandersetzung und Wertschätzung eingesetzt, vor allem bei einem jungen Publikum. Weltweite Retrospektiven in Toronto, Madrid, Mexiko und zuletzt im Haus der Kunst München sowie nächstes Jahr in der Bonner Kunsthalle belegen die große Aktualität und Relevanz von Walther als Künstler-Künstler.

Nicht nur Franz West, auch Tino Sehgal beziehen sich explizit auf seine partizipative Handlungsform, die Freiheit und Humanität als unsere Grundwerte praktiziert.

Nach diesen Grundprinzipien will auch die Villa Franz Erhard Walther in Fulda ein offenes und unabgeschlossenes Haus sein, in dem die frühen Arbeiten in immer neuen Konstellationen und Dialogen mit anderen Künstler*innen gezeigt werden. Der Genius Loci wirkt höchst einladend, anregend und aktivierend.

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