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Psycho-Trip. Pipilotti Rist projiziert in ihrer Installation "Remake of the Weekend" Videos auf diverse Kieselhaufen.

© Jan Windzus

Eine junge Kunstgattung: Bestandsaufnahme des Environments im Hamburger Bahnhof

Environment, Installation, narrative Räume: Der Hamburger Bahnhof zeigt auf 3200 Quadratmetern, wie sich das Genre seit den 50ern entwickelte.

„Soll ich meine Beziehung zur Wirklichkeit auf ein Minimum reduzieren?“ „Bin ich gefangen in einem Geflecht?“ Eine Antwort gibt es auf diese Fragen nicht. Sie kommen und vergehen als Projektion im abgedunkelten Raum. Da taucht schon die nächste auf: „Wächst Unbehagen von selbst?“ Peter Fischli und David Weiss waren immer schon gut für ein Wundern über die Welt. Sie haben Flughäfen und Blumengebinde fotografiert, umwerfend komische Tonfiguren geformt, dem Frankfurter Museum für Moderne Kunst eine künstliche Abstellkammer unter einer Treppe beschert, aus Wurstscheiben kleine Szenen arrangiert.

Darin besteht gerade der schöne Widerspruch: Das Schweizer Künstlerduo hat sich mit einer so umwerfenden Ernsthaftigkeit den Dingen des Alltags gewidmet und einer neuen lakonischen Betrachtung unterzogen, dass es zum Lachen reizt. „Driftet alles auseinander?“ Der auf der Ausstellungswand im Hamburger Bahnhof verblassenden Schrift möchte man ein „Ja!“ hinterherrufen, schließlich diffundiert alles im Saal. Keine Frage hält sich länger als ein paar Sekunden, der Raum bleibt so in Bewegung und der Besucher in ihm.

„Moving is in every direction“ lautet der Titel der Ausstellung im Hamburger Bahnhof – in Anlehnung an einen Vortrag, den Gertrude Stein 1934/35 vor Studenten in Chicago über nicht-lineares Erzählen hielt: „ein Gefühl daß irgend etwas fortschreitend vor sich geht gibt es gegenwärtig nicht, Bewegung erfolgt in jeder Richtung Anfang und Ende ist nicht wirklich erregend, alles ist alles, alles geschieht und jeder kann jederzeit wenn etwas geschieht alles erfahren“.

Damit beschrieb die amerikanische Dichterin und Sammlerin eine erst über zwei Jahrzehnte später einsetzende Kunstpraxis, die ebenfalls anarchische Qualitäten besaß: Ende der 50er verließ das Bild endgültig den Rahmen, die Skulptur hatte schon sehr viel früher vom Sockel heruntergefunden. Eine neue Raumkunst entstand, die ihr offizielles Geburtsjahr 1958 mit Alan Kaprows „Environments“ hat. Der US-Künstler gab dem Publikum schriftliche Anweisungen, sogenannte Partituren, wie es sich an den Performances beteiligen sollte.

Die Ausstellung wird aus den Beständen der Neuen Nationalgalerie bestückt

Knapp 60 Jahre alt, ist diese sich entgrenzende Raumkunst noch immer ein recht junges Genre. Kunsthistorisch werden „Environments, Installationen, narrative Räume“, so der Untertitel der Ausstellung, erst seit 15 Jahren bearbeitet. Das Hamburger Bahnhof versucht nun eine Bestandsaufnahme – und das aus eigener Kraft, eigenem Bestand. Die Sammlung der Neuen Nationalgalerie, die Größe der Räume geben es her. Die von Anna-Catharina Gebbers und Gabriele Knapstein eingerichtete Schau breitet sich auf 3500 Quadratmetern aus. Die gesamten Rieckhallen, das Untergeschoss des Westflügels werden bespielt.

Den Platz braucht es, denn zur Grundlage gehört die räumliche Erfassung, die Möglichkeit, das Werk in allen seinen Teilen zu umwandern, sich in seine Wirkung hineinzubegeben. „Environments müssen begangen werden“, legte Kaprow schon 1958 fest. Das ließ sich nicht immer durchhalten. Wolf Vostells „Happening Raum“, mit dem er 1968 die westliche Kriegslust anprangerte, war bei seiner Erschaffung noch begehbar. Die Besucher durften sich damals auf knirschenden Glasscherben zwischen kaputten Fernsehern bewegen, auf denen sich Zivilisationsschrott – Bombenzylinder, Skier, Zuckerhüte – türmen. Mit dem Einzug ins Museum kam das Arrangement aufs Podest, das sich nur noch umrunden lässt.

Zu Beginn war dem Environment noch das Ephemere eingeschrieben, mit dem Ausstellungsende, dem letzten Akt des Happenings, endete es. Kaprow war darin konsequent, sodass von seinen meisten Arbeiten nur noch die Partituren und Fotografien existieren. Nicht alle hielten sich daran. Wie Vostell verband auch Jospeh Beuys eine Hassliebe mit dem Museum. Zwar predigte er den erweiterten Kunstbegriff, doch zog es ihn ins Mausoleum. Von diesem Dilemma zeugen die 100 mit Kreide beschriebenen Tafeln des Environments „Richtkräfte einer neuen Gesellschaft“, die Beuys 1974 bei seinem Vortrag in der Londoner Ausstellung „Art into Society – Society into Art“ beschrieb und dann als performativen Akt auf den Boden warf. Drei Jahre später wurden sie wieder hervorgeholt und für die Neue Nationalgalerie sorgfältig ausgebreitet, womit sie ihre verbindliche Form erhielten.

Zum Environment gehört die räumliche Erfahrung

Noch ist die endgültige Definition des Environments nicht gefunden, der Kanon nicht abgeschlossen. Soundstücke können dazugehören wie Bernhard Leitners Ton-Röhre, die spiralförmig im Raum wirkt, oder Susan Philipsz’ Installation aus Lautsprechern, aus denen die Klänge im Krieg beschädigter Hörner und Trompeten dringen. Zu den wiederkehrenden Merkmalen gehört eine narrative Struktur, viele Environments erzählen vom Alltag, wenn auch nicht chronologisch. Der Besucher baut sich die Geschichten selbst zusammen durch die Reihenfolge, in der er auf die Elemente trifft. Der Hamburger Bahnhof verfügt mit dem von Robert Kusmirowski gestalteten „Übergang“ vom Haupthaus zu den Rieckhallen über ein besonders anschauliches Beispiel: Der Weg führt wie in einem S-Bahnhof treppauf, treppab an türkisen Kacheln, beschmierten Werbeplakaten vorbei. In der Mitte der Passage prangt in Sütterlin-Schrift die Tafel „Hamburger Bahnhof“, eine Zeitreise vor und zurück.

Dafür typisch ist auch Gregor Schneiders Kammer, in die der Besucher über drei Stufen gelangt: Eine Matratze am Boden, ein vor dem Fenster heruntergelassenes Rollo befindet sich darin, die Fantasie nimmt ihren Lauf. Prompt löscht der Besucher das Licht beim Verlassen des „Schlafzimmers“, das zum „Haus ur“ gehört, einem in Mönchengladbach tatsächlich existierenden Haus. Der Künstler hat es über Jahre systematisch zum gespenstischen Labyrinth ausgebaut. Die verschiedenen Teile und Kombinationen tauchen seitdem immer wieder im Ausstellungsbetrieb auf und lassen schaudern.

Durch ihren Erlebnischarakter animieren Environments seit jeher auch zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen. Christopher Kulendran Thomas erprobt aktuell mit „New Eelam“ ein Wohnmodell für die Zukunft: postkapitalistisch und postnationalistisch. Im Aquarium seines Settings mit Sofa, Regalen und TV schwimmen Nilbarsche, die sich von Algen ernähren, die wiederum durch den Kot der Fische gedeihen. Die Raumkunst als politischer, ökologischer und sozialer Proberaum. Diese Weiterentwicklung dürfte Kaprow auch gefallen haben.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50–51, bis 17. September; Di–Fr 10 –18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa / So 11 – 18 Uhr.

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