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Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker

© Stephan Rabold

Berliner Philharmoiker beim „Musikfest Berlin“: Geschnittene Luft

Überwältigend: Chefdirigent Kirill Petrenko führt die Berliner Philharmoniker durch ein grandios anspruchsvolles Programm mit Werken des 20. und 21. Jahrhunderts.

Der Beginn erinnert an die Dusch-Szene aus Hitchcocks „Psycho“. Wie in Bernhard Herrmanns legendärerer Filmmusik reißen die Streicher ihre Saiten an, schnell, hart, scharf. Dann aber zerfällt der Zusammenklang, die Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässe produzieren nur noch schmirgelnde Reibungen, dazu grollt Donner in den Pauken, vom Xylophon kommen Klack-Geräusche, bis sich das riesenhaft besetzte Orchester zu einem archaischen Tanz à la „Sacre du printemps“ steigert.

Und das ist er ist der Anfang von Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“. Mit dem 1977 entstandenen Schocker eröffnet Kirill Petrenko den zweiten Auftritt der Berliner Philharmoniker beim „Musikfest Berlin“. Das Werk des Griechen, der gleichermaßen als Architekt wie als Komponist Radikales schuf, erreicht Phonstärken, wie sie in den 60 Jahren seit Eröffnung der Philharmonie diesen Saal selten erschüttert haben.  

Kirill Petrenko (rechts) und der Komponist Marton Illes am 14.9.2023 mit den Berliner Philharmonikern

© Bettina Stöß

Alles ist außergewöhnlich an diesem Abend. Vier Werke stehen nebeneinander, drei aus dem 20. Jahrhundert, die die wenigsten im Publikum schon einmal gehört haben dürften, dazu kommt eine Uraufführung. Auf die an Schmerzgrenzen gehende Xenakis-Wucht, die in ihrer überrollenden Art durchaus den Sog eines Schwarzen Lochs erzeugen kann, folgt „Leg-szin-ter“ von Márton Illés. Poetisch lässt sich das aus dem Ungarischen mit „Luft-Szenerie“ übersetzen.

Überformatige Partituren

Der 1975 geborene Illés hat das Stück im Auftrag der Philharmoniker geschrieben, also im Bewusstsein, von seinen Interpreten höchste Virtuosität bei maximaler Komplexität abfordern zu können. Bewegung im Raum ist sein Thema, und der Hinweis auf den Aggregatzustand des Gasförmigen reicht aus, um die Fantasie anzuregen. Im Versuch nachzuvollziehen, aus welcher Richtung der Luftzug gerade kommt, wie stark die Böen sind, ob Fallwinde drohen oder gar Orkanstärken, vergeht der 18-Minüter kurzweilig.

Dekadenz, Verfall, Tod

Nach der Pause tritt Christian Gerhaher zu den dicht gedrängt sitzenden Philharmonikern, um sich mit ihnen in die „Gesangsszene“ zu stürzen, die Karl Amadeus Hartmann Anfang der 1960er Jahre auf Worte aus Jean Giraudoux‘ Schauspiel „Sodom und Gomorrha“ geschrieben hat. Es geht um Dekadenz, Verfall und Tod, nahtlos wechselt der Bariton zwischen Deklamation und Singen, reizt seine enormen vokalen Mittel aus bis zum Schrei, umtost von bitterem, zerfurchtem Orchestersound.

Und noch eine überformatige Partitur schlägt Kirill Petrenko schließlich auf, „Stele“ von György Kurtag, ebenfalls den Philharmonikern in die Instrumente komponiert. Nach den vorangegangenen Stürmen hat die Musik bei Petrenko am Donnerstag deutlich mehr Eigengewicht, als man das von der Aufnahme mit Claudio Abbado aus dem Uraufführungsjahr 1994 kennt.  

Wo in der Klassikwelt gibt es das sonst? Ein Chefdirigent, der sich und sein Ensemble mit einem derart herb-heutigem Programm herausfordert, mit vier Kassengift-Werken – und den Saal dennoch fast bis auf den letzten Platz füllt? Mit einem Publikum, das sich wirklich konzentrieren kann, das willig ist, sich vorurteilsfrei auf das Unerhörte einzulassen? Glückliches Berlin!

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