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Dirigent Andris Nelsons kommt mit seinem Boston Symphony Orchestra nach Berlin.

© Hilary Scott

Das „Musikfest Berlin 2023“ startet: Mit Mut proben

Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des „Musikfest Berlin“, legt gleich zum Saisonstart die Latte hoch: Bei seinem Festival messen sich Berliner Orchester künstlerisch mit hochkarätigen Gästen aus aller Welt.

In Skandinavien feiert man die Mitsommernacht, in Italien markiert „Ferragosto“, also Mariä Himmelfahrt, den Höhepunkt der Urlaubssaison, und wenn sich in Deutschland die warme Jahreszeit ihrem Ende zuneigt, startet das „Musikfest Berlin“. Ein künstlerisches Gipfeltreffen, bei dem sich die großen Orchester der Hauptstadt mit Gästen aus aller Welt messen: In diesem Jahr werden unter anderem das London Symphony Orchestra, das Israel Philharmonic, das Amsterdamer Concertgebouworkest, die Münchner Philharmoniker und das Bayerische Staatsorchester sowie das Boston Symphony Orchestra erwartet.

Seit 2006 gestaltet Winrich Hopp diesen spektakulären Spielzeitbeginn, der einst unter dem Namen „Berliner Festwochen“ gegründet wurde. Und sein Ehrgeiz ist dabei, nicht nur die besten Ensembles zu versammeln, sondern die Künstlerinnen und Künstler auch dazu zu überreden, besonders aufregende, ja unerhörte Programme anzubieten.

Vorbildliche Philharmoniker

Mit dem Musikfest will Winrich Hopp die Messlatte hochlegen für all das, was in der Saison dann noch kommt. Außergewöhnlich sollen die Konzerte sein, herausfordernd für die Interpreten wie auch für ihr Publikum. Und in den Berliner Philharmonikern hat er dabei Kooperationspartner, die für das Festival nicht nur ihr Stammhaus zu Verfügung stellen, sondern auch inhaltlich Vorbildliches leisten. 

Jörg Widmann, der philharmonische „Composer in Residence“ das Spielzeit 2023/24, tritt selbst als Dirigent ans Pult des Orchesters, um Mendelssohns „Reformations-Symphonie“ mit drei eigenen Werken zu konfrontieren, einer „Con brio“-Ouvertüre, einem Violinkonzert, bei dem seine Schwester Carolin Widmann als Solistin brilliert, sowie einer Fantasie für Klarinette solo, die der vielfach Begabte selbst spielt.

Geradezu tollkühn darf man das Programm nennen, das Chefdirigent Kirill Petrenko in der Woche darauf präsentiert - weil es ganz ohne Zugeständnisse an den Wiedererkennungseffekt auskommt, der doch Klassik-Liebhabern so wichtig ist. Da ragt György Kurtags „Stele“ auf neben einer Gesangsszene aus „Sodom und Gomorrha“ von Karl Amadeus Hartmann, da entfaltet Iannis Xenakis „Jonchaies“ seine archaische Wucht neben einer Uraufführung von Marton Illès.

Winrich Hopp leitet das Musikfest Berlin seit 2006.

© Funke Foto Services/Reto Klar

Nicht alle Musikfest-Teilnehmer können sich freilich so furchtlos zeigen wie die Lokalmatadoren. Wer eine Tournee halbwegs wirtschaftlich gestalten will, muss Kompromisse machen, verlockende Köder auswerfen für die potenziellen Kunden. Glanzvolle Mahler-Sinfonien werden darum die Londoner, die Amsterdamer und die Münchner Philharmoniker im Gepäck haben, das Boston Symphony Orchestra spielt Strawinskys herrliche „Petruschka“-Ballettmusik.

Rachmaninow-Renaissance

Überraschend für Winrich Hopp ist der Rachmaninow-Schwerpunkt des Musikfests. Denn der künstlerische Leiter wird ja nicht müde, bei den Orchestern dafür zu werben, die großformatigen sinfonischen Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts aufzuführen. Damit diese sich, endlich, im Repertoire etablieren, zur Selbstverständlichkeit auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer werden. Stücke von Edgar Varèse und Arnold Schönberg, wie sie das Ensemble Modern nach Berlin mitbringt, Partituren von Benjamin Britten und Alban Berg, die das Konzerthausorchester respektive das Bayerische Staatsorchester interpretieren werden.

Sergej Rachmaninow dagegen, dessen Geburtstag sich 2023 zum 150. Mal jährt, war immer ein Traditionalist, ein Rückwärtsgewandter, der von den Zeitläuften zwar zu einem kosmopolitischen Leben gezwungen wurde, doch überall einer golden verklärten, russischen Vergangenheit nachtrauerte. In den Künstlerkreisen, in denen sich Winrich Hopp bewegt, galt er darum lange als Kitsch-Komponist.

Starker Frauenanteil

Inzwischen aber bewunderten selbst Komponisten wie Wolfgang Rihm dessen Fähigkeit, mit langem Atem große Formen zu gestalten, erzählt der Musikfest-Leiter im Gespräch. An fünf Abenden wird Rachmaninow im Mittelpunkt stehen: der Pianist Alexander Melnikow gestaltet zwei Recitals, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt die 3. Sinfonie, das Israel Philharmonic die „Symphonischen Tänze“ und der Berliner Rundfunkchor lädt zur „Ganznächtlichen Vigil“ in die Gethsemanekirche.

Viele weitere Themen werden angetippt bei diesem Festival, das Seismograf sein will und Wegweiser für den Klassikbetrieb: Immer mehr Orchester reisen mit Bus und Bahn an, viele Dirigentinnen, Solistinnen und Komponistinnen sind im Programm zu entdecken, es geht um traditionelle persische Musik, das Kyiv Symphony Orchestra ist eingeladen zu einem Gastspiel in der Philharmonie. Und der große John Eliott Gardiner führt mit seinem Orchestre Revolutionnaire et Romantique Hector Berlioz Antikendrama „Les Troyens“ auf, ungekürzt, halbszenisch und natürlich in genau der Klanggestalt, die sich der Komponist vor 170 Jahren erträumte, aber nie erleben konnte. Denn Gardiner ist und bleibt ein ästhetischer Pfadfinder, ein humboldtsch-humanistischer Entdeckergeist, auch mit 80 Jahren noch.  

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