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Ernst Ludwig Kirchner: Frauen auf der Straße, 1915

© Von der Heydt-Museum Wuppertal

Ausstellung "Wien Berlin": An der schönen blauen Spree

Sie sind einander nah und fern zugleich: Die Städte Wien und Berlin. Jetzt widmet die Berlinische Galerie den Malern der Moderne aus beiden Metropolen eine Ausstellung. „Wien Berlin“ ist ein Paukenschlag.

Wie Geschwister hängen die beiden Gemälde nebeneinander an der Wand, das eine aus Wien, das andere aus Berlin: Ferdinand Andris „Butterbäuerinnen“ (1902), die auf dem Naschmarkt ihre Ware feilbieten, begutachtet von einer eleganten Dame, und Hans Baluscheks „Montagmorgen“ (1898) mit sich räkelnden jungen Frauen in einer Dachkammer. Schläfrig steckt sich die eine ihre erste Zigarette an, versonnen schaut die andere auf die erwachende Stadt, Flaschen und Gläser verraten das abendliche Gelage. Wien, Berlin, das meint der Betrachter hier noch gut auseinanderhalten zu können, doch in die Malweise haben sich Merkmale des anderen geschlichen: Bei Andri scheint ein neuer Realismus auf, bei Baluschek die Neugier auf den Blick hinter die Kulissen, die Psyche der jungen Damen.

Beide Maler stehen an der Schwelle zum neuen Zeitalter, dem Aufbruch in die Moderne. Beide waren Secessionsmitglieder in ihren Städten, auf der Suche nach einer unverbrauchten Formsprache. Der Vergleich liegt nahe. Künstler, Intellektuelle liebten es seit jeher, die Mentalitätsunterschiede der Metropolen herauszustreichen: Walzerseligkeit versus Großstadthärte. Selbstkritisch konstatierte 1898 Berta Zuckerkandl, eine Mäzenin der Wiener Secession: „Trotz aller natürlichen Anlagen, trotzdem Fähigkeiten und Talent vorhanden sind, hat Wien sein Schönheitsgefühl verloren. Wer hätte je für möglich gehalten, dass Berlin uns selbst in dieser Hinsicht überflügeln werde!“

Wien und Berlin, die beiden Kapitalen, haben einander argwöhnisch beäugt, wie die andere mit den Umwälzungen der Zeit zurande käme. Die Künstler waren Teil dieses Wandlungsprozesses. Sie kommentierten ihn nicht nur mit ihren Werken, sondern trieben ihn voran. In der Kunst wird paradigmatisch sichtbar, was die Städte gemeinsam haben, was sie trennt. Nur wurde das bisher erstaunlicherweise nie untersucht, anders als in Literatur oder Theater. Höchste Zeit für die Berlinische Galerie, sich der Sache anzunehmen, nachdem Moskau 1995 Thema war. Das Desiderat galt ebenso für die Österreichische Galerie Belvedere, die sich bereits der Beziehung Wien–Paris gewidmet hat.

Statt klischeeseliger Unterschiede haben die Kuratoren die Schnittpunkte gesucht

Beide Museen bilden füreinander den idealen Partner, wenn auch das Belvedere mit Klimt und Schiele die größeren Kaliber besitzt. Gemeinsam haben sie eine 200 Werke umfassende Ausstellung gestemmt mit erster Station in Berlin. Seit Eröffnung des ehemaligen Glaslagers als Museum vor neun Jahren ist es die größte Präsentation und ein Paukenschlag. Mag das Grandiose in den mal zu engen, mal zu breiten Räumen noch immer fehlen, das für die Wände gewählte Grau alles Glamouröse schlucken, die auf drei Jahrzehnte bis in die frühen Dreißiger fokussierte Schau ist eine Offenbarung.

Statt klischeeselig die Unterschiede herauszustreichen, haben die beiden Kuratoren Ralf Burmeister und Annelie Lütgens vielmehr die Schnittpunkte gesucht. Zu ihrer eigenen Überraschung besaß die österreichische Kapitale künstlerisch eine große Präsenz in der deutschen Hauptstadt. Die Wiener Werkstätte unterhielt eine prachtvolle Dependance an der Leipziger Straße, als wäre es am Ring, und Margarethe Stonborough-Wittgenstein, die Schwester des Philosophen, ließ sich im Grunewald eine Villa im „Wiener Stil“ einrichten. Wichtigste Plattform des Austauschs aber waren die Zeitschriften, „Die Fackel“ von Karl Kraus und „Der Sturm“ von Herwarth Walden, wo Gästen großzügig Platz eingeräumt wurde. Das Künstlerarchiv der Berlinischen Galerie kann hier mit Schiele-Titeln und Kokoschka-Reproduktionen aus den Vollen schöpfen.

Egon Schiele: Bildnis des Verlegers Eduard Kosmack, 1910
Egon Schiele: Bildnis des Verlegers Eduard Kosmack, 1910

© Belvedere, Wien

Erst nach zähen Verhandlungen mit dem Belvedere gelang es, auch ein Gemälde des Wiener Malerstars zu bekommen. Klimts unvollendetes Bildnis der Johanna Staude (1917/18) ist prompt das Renommierobjekt der Berliner Schau, das von der Originalbluse der Porträtierten ergänzt wird: ein seidiges Etwas in Türkis, Pink und Blau, deren auf dem Gemälde durch eine Federboa verborgenen Schulterknöpfchen sich nun in einer Vitrine studieren lassen. Ein anderes entsandtes Hauptwerk, Egon Schieles „Bildnis des Verlegers Eduard Kosmack“ (1910), bannt durch seinen magischen Blick. Die Augen des Mannes treten hellsichtig hervor, die knochigen Hände sind zwischen den Knien zusammengepresst, eine kantige, kluge Erscheinung. Den auffällig scharfen Blick und die gefalteten Hände von Walter Gramattés „Kakteendame“ (1918) in unmittelbarer Nachfolge zu sehen, erscheint zwar weit hergeholt, doch das psychologisierende Moment ist eindeutig Wiener Erbe. Wo die Berliner Expressionisten die Ekstase der Stadt zu erfassen suchen, spüren die Wiener den Zuckungen der Seele nach. Das erweist sich auch in den Reaktionen auf den ersten Weltkrieg. Die deutschen Künstler zeigen das Grauen, allen voran Meidner mit seinen Apokalyptischen Landschaften und Dix mit seinem Grafikzyklus von der Front, während sich ihr österreichischer Kollege Fritz Schwarz-Waldegg im Selbstporträt von 1920 als gemalte Metapher das Herz aus der Brust reißt.

Die neue Sachlichkeit legt die Dargestellten unters Mikroskop

Die nachfolgende Stille der Neuen Sachlichkeit in den Zwanzigern könnte als Kontrast nicht größer sein. Wie unter dem Mikroskop werden Physiologie und Psychologie des Dargestellten erfasst. Christian Schads messerscharfe Porträts, Rudolf Schlichters kühle Anamnese der modernen Frau lassen frösteln. Diesen sezierenden Blick legt sich auch Herbert Ploberger zu, nachdem er von Wien nach Berlin gezogen ist. In seinem Selbstporträt stellt er sich mit Lehrmodellen der Augenheilkunde dar. Mit der linken Hand hebt er die Brille an, während er mit dem Zeigefinger der rechten ein Augenlid nach unten zieht, um genauer zu sehen.

Rudolf Wacker, der zwischen Wien und Berlin und Bregenz beständig wechselte, vereint in seinem „Stillleben mit Kistendeckel“ (1930) beide Seiten: einen hoch artifiziellen Verismus mit erotischem Subtext. Aus der Kiste, die den Namen einer Freundin trägt und Schuhgröße 40 verrät, ragt anspielungsreich eine Gurke. Im gleichen Jahr entsteht Lotte Lasersteins melancholischer „Abend über Potsdam“ mit einer Tischgesellschaft, die wenige Jahre später komplett ins Exil gedrängt sein wird. Zum Überraschungsbesuch in der Ausstellung wird ihr Gemälde „Im Gasthaus“ (1927), einst im Besitz des Berliner Magistrats, dann von den Nationalsozialisten entfernt. Die nach Schweden emigrierte Künstlerin selbst glaubte es noch verschollen, bis es kürzlich in einer Auktion auftauchte. Nun hängt es gastweise wieder in der Stadt. Dauerhaft bleibt dafür Max Beckmanns Mappenwerk „Berliner Reise“ und Dix’ Federzeichnung als Soldat, erworben mithilfe der Kulturstiftung der Länder, nachdem sich die Berlinische Galerie schon einmal als Besitzerin wähnte. Die damalige Schenkung durch Florian Karsch, den Erben der legendären Sammlung Nierendorf, musste rückabgewickelt werden.

Drei Jahrzehnte Liaison Wien–Berlin lassen sich nicht ohne die nachfolgende Geschichte sehen. Die heiteren Vergleiche zwischen Mehlspeise auf der einen, Pfannkuchen auf der anderen Seite, die wechselvollen Künstlerbeziehungen gewinnen retrospektiv einen Zug ins Tragische. Die „Butterbäuerinnen“ des Anfangs, die verkaterten jungen Damen waren davon noch weit entfernt.

Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, bis 27. 1.; Mi bis Mo 10–18 Uhr. Katalog (Prestel): 39,80 €.

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