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Boris Palmer am Wahlabend in Tübingen, 2022.

© imago/Eibner / IMAGO/Eibner-Pressefoto

Auf der Palme : Für eine Energiewende im Aufregungstheater

Der neue Fall Boris Palmer ist ein Lehrbeispiel zur Debatte um Sprache und Canceln.

Von Caroline Fetscher

Aufregung, Empörung, erregtes Pingpong von Schuldzuweisungen. Boris Palmer hat all das mal wieder geschafft – und die Causa bietet ein prächtiges Lehrbeispiel für Konfliktanalyse.

Vor einem Gebäude der Uni Frankfurt, wo Palmer zu einer Konferenz eingeladen war, fing ihn eine Protestgruppe ab und beschimpfte ihn, da er auf Facebook das N-Wort verwendet hatte.

Die Gruppe hatte dagegen schon vorher im Netz protestiert, Palmer war darüber schon vorher informiert. Beide Parteien waren bereits vorgeheizt im Modus von „Na warte!“. Wie Boxer ohne Ring waren sie auf der Suche nach dem Gegner.  

Vor dem Bau wurde Palmer geortet. Da isser, da isser! Auf zur N-Konfrontation. Palmer wollte sich rausreden. Ein schwarzes Mitglied der Gruppe forderte Palmer auf, ihm hier und jetzt persönlich das N-Wort ins Gesicht zu sagen.

Das zielte auf Beschämung, vergebens. Der Adressat ließ es sich nicht zweimal sagen, heizte mit ebenjenem Wort nach, wurde als „Nazi“ beschimpft und konterte selber mit einem Nazi-Vorwurf.

Gewonnen wurde bei alledem für die Debatte um Sprache, Diskriminierung und Rassismus: nichts. Ausgezeichnet dagegen eignet sich die Causa als Beispiel für die Dynamik und ungeheure Energievergeudung solcher Szenarien.

Beide Seiten hatten es offenbar auf maximalen Empörungsgenuss abgesehen, beide waren heizbereit angereist. Der Protest sollte Palmer auf die Palme bringen und dieser seine Gegner. Beide Seiten feuerten sich wechselseitig an und sammelten Heizmaterial.

Bereits die Snippets in den sozialen Netzwerken waren wie Pellets zum Vorglühen verwendet worden. Als es zur Konfrontation kam, war genug Heizmaterial vorhanden, das abgefackelt werden wollte – im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und zum beiderseitigen Empörungsgenuss. Das Resultat ist eine ungeheure Energievergeudung, eine Verschwendung von Ressourcen wie Zeit, Aufmerksamkeit und Emotion. Dringend gebraucht wird eine Energiewende in diesen Diskursen.

Deren Dynamiken verdanken sich vielen Faktoren. Irgendwann hat das Engagement meist mit Leidensdruck und Erkenntnisinteresse begonnen. Entgleisen kann es, wenn Individuen und Gruppen, überfordert von Affekten, Aufgaben und Material, ihre Reflexionsfähigkeit einbüßen. Das verstärkt wiederum den Affektstau noch weiter und verringert die Impulsregulierung.

Bei den Protagonisten trägt das zu einer neuen Erfahrung bei: Wir werden gehört, wenn wir erhitzte Parolen rufen! Ihre Worte werden womöglich inhaltlich weniger ernst genommen, wissenschaftlich erst recht nicht. Aber sie erfahren Aufmerksamkeit, sorgen für Wirbel, Turbulenzen, und erhalten das Etikett „erhitzte Debatte“.

Am Siedepunkt rühmt sich die Gruppe: Das waren wir! Wir haben den Palmer entlarvt! Der ist zufrieden beleidigt: Das war ich! Ich habe diese grobe Gruppe vorgeführt! Sind so viel Grad in einem Geschehen erreicht, gilt der Gewinn fast vollständig nur noch dem Narzissmus der Beteiligten.

Sie hätten immer noch die Chance, sich ihr heißes Aufregungstheater von außen anzuschauen und nach den unsichtbaren Regiekräften zu forschen, die sie weggelotst haben von Erkenntnisinteresse und dem Einsatz politischer Intelligenz. Sie haben die Chance zur Energiewende.  

Boris Palmer geht jetzt erste Schritte in die richtige Richtung – sogar in Richtung Selbsterkenntnis. Zu viele seiner Freunde und Weggefährten werden ihm, wie sein Anwalt Rezzo Schlauch, die Gefolgschaft gekündigt haben oder ihn zum Umdenken aufgefordert haben. Der Landesverband der Grünen in Baden-Württemberg gab am Montag bekannt, dass Palmer mit sofortiger Wirkung aus der Partei austrete. In einer Stellungnahme schrieb der habituelle Provokateur, er wolle sich nun „selber ändern“. Er sei mit „ernsthaften Vorsätzen“ bisher „leider nicht erfolgreich“ gewesen. In einer Auszeit werde er daher „professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und den Versuch machen, meinen Anteil an diesen zunehmend zerstörerischen Verstrickungen aufzuarbeiten“. Das ist doch mal ein Wort.

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