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Protest in London.

© Imago/Zuma Wire/Vuk Valcic

Vereinigtes Krisenreich: König Charles repräsentiert ein mehr denn je zerrissenes Land

Das Gesundheitssystem ist klinisch tot, die Gehälter sinken, die Lebenserwartung auch. Großbritannien steckt mitten in mehreren Krisen. Eine Bestandsaufnahme.

Es gibt was zu feiern. So soll es jedenfalls aussehen. Wer in den Tagen vor der Krönung von Charles rund um den Buckingham Palace in London unterwegs ist, sieht vor allem eins: noch mehr Flaggen als sonst schon.

Das Zentrum der royalen Macht ist herausgeputzt. Reiter, Marschkapellen und Grenadiere üben ihre Abläufe, Gärtner kriechen ein letztes Mal durch die sorgsam angelegten Beete und Touristen machen Selfies in der Frühjahrssonne.

Es soll eine perfekte Show werden. Aber für wen eigentlich? Einer Yougov-Umfrage zufolge haben 64 Prozent der Britinnen und Briten gar kein oder nur geringes Interesse an der Krönung. Die meisten Menschen im Land haben ganz andere Sorgen.

Charles repräsentiert eine Nation, die wie keine andere westliche Demokratie gleich in mehreren Krisen steckt. Wäre Großbritannien ein Patient, es würde multiples Organversagen drohen.

1 Die Gesundheitskrise

Einst war der National Health Service (NHS) der Stolz Britanniens. Das staatliche Gesundheitssystem soll für jeden Bürger medizinische Versorgung sicherstellen – unabhängig vom Einkommen. In der Theorie schön, in der Realität ist der NHS selbst der schwierigste Patient.

90
Minuten mussten Patienten mit einem Herzinfarkt im Dezember durchschnittlich auf einen Krankenwagen warten.

Spätestens mit der Pandemie wurde die Sparpolitik der vorhergehenden Jahrzehnte offensichtlich. Großbritannien gibt pro Bürger im Schnitt 39 Prozent weniger für Gesundheit aus als Deutschland. Auf 1000 Einwohner kommen 3,2 Ärzte (Deutschland: 4,5) und 2,4 Krankenhausbetten (Deutschland: 7,8). Seit 1980 hat sich die Zahl der verfügbaren Betten quasi halbiert.

Krankenschwestern und Krankenpfleger demonstrieren vor dem Queen Elizabeth Hospital für mehr Geld.
Krankenschwestern und Krankenpfleger demonstrieren vor dem Queen Elizabeth Hospital für mehr Geld.

© dpa/PA Wire/Jacob King

Ende des vergangenen Jahres waren rund 124.000 Stellen beim NHS unbesetzt, ein Großteil davon in der Pflege. Rund 362.500 Menschen warten seit mehr als einem Jahr auf medizinische Behandlung –169-mal mehr als vor der Pandemie. Rund sieben Millionen Menschen warten auf eine Krankenhausbehandlung, zum Beispiel für eine Hüftoperation.

Wer im Dezember in Großbritannien einen Herzinfarkt hatte, musste im Schnitt 90 Minuten auf einen Krankenwagen warten. Und das in einem Zustand, in dem jede Sekunde zählt. Rund die Hälfte aller Patienten in der Notaufnahme mussten vier Stunden oder länger auf eine Behandlung warten.

2 Die Wohnungskrise

Londons Wohnungsmarkt ist berüchtigt. 2000 Pfund im Monat (umgerechnet fast 2300 Euro) für ein kleines Zimmer im Keller sind hier keine Seltenheit. Doch auch außerhalb der Metropole haben die Menschen Schwierigkeiten, bezahlbaren Wohnraum zu finden.

Nach Angaben der Hilfsorganisation Shelter gelten in Großbritannien mindestens 271.000 Menschen als obdachlos. In Deutschland sind es laut Bundesregierung 263.000 Menschen – und das bei rund 15 Millionen Einwohnern mehr. Die Zahl der Britinnen und Briten, die keine dauerhafte Unterkunft haben, stieg in den vergangenen zehn Jahren um 74 Prozent.

4,3
Millionen Wohnungen fehlen im Land.

Die Zahl der neu gebauten Wohnungen hat sich seit dem Höhepunkt Ende der 1960er von mehr als 400.000 auf etwa 200.000 im Jahr halbiert. Und sozialer oder geförderter Wohnraum wird knapper. Seit 1980 ging der Anteil von 30 Prozent auf etwa 17 Prozent zurück. Nach Angaben des Think Tanks „Center for Cities“ fehlen im Vereinigten Königreich 4,3 Millionen Wohnungen – ein Höchstwert in Europa.

Neben dem Mangel an Wohnraum gibt es immer wieder schockierende Berichte über verschimmelte, fensterlose oder heruntergekommene Behausungen. Nach Angaben von Shelter sind zwei Millionen Wohnungen im Land in einem Zustand, der gesundheitsschädlich für die Bewohner ist.

Vor wenigen Monaten sorgte ein Gerichtsprozess um den Tod eines zweijährigen Jungen für Schlagzeilen. Die Richterin stellte fest: Der Junge starb, weil er in einer völlig verschimmelten Wohnung leben musste, und das, obwohl sich die Eltern mehrfach bei der Wohnungsgesellschaft beklagt hatten.

Im Januar gedachten Aktivisten der Menschen in Großbritannien, die den kalten Winter nicht überlebt haben.
Im Januar gedachten Aktivisten der Menschen in Großbritannien, die den kalten Winter nicht überlebt haben.

© Imago/Zuma Wire/Tayfun Salci

3 Die Lebensstandardkrise

Wie Deutschland auch wurde Großbritannien durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wirtschaftlich getroffen. Im März lag die Inflationsrate bei 8,9 Prozent (Deutschland: 7,4 Prozent). Die Preise für Lebensmittel und nicht-alkoholische Getränke stiegen 2022 so stark wie seit 45 Jahren nicht (um 19,2 Prozent). Im vergangenen Jahr sanken die Reallöhne zudem um 2,5 Prozent.

In diesen Bereichen zeigen Großbritannien und Deutschland ähnliche Werte. Doch es gibt Unterschiede. In den vergangenen zwölf Monaten stieg der Gaspreis für Haushalte um 129 Prozent (Deutschland: 64,8 Prozent). Rund 80 Prozent aller britischen Haushalte heizen mit Gas. Der Preis für Strom stieg um 66,7 Prozent (Deutschland: 20,1 Prozent).

Das verfügbare Haushaltseinkommen pro Person, einer der wichtigsten Messwerte für den Lebensstandard, ist in Großbritannien 2022 um 4,3 Prozent gesunken. Der schlechteste Wert seit Beginn der Messung 1956. Diesem Wert zufolge liegt das Land nun wieder bei einem Lebensstandard, den es 2013 bereits erreicht hatte.

78,73
Jahre beträgt die Lebenserwartung eines britischen Mannes.

Zudem sinkt die Lebenserwartung der Britinnen und Briten. Nach Angaben der OECD ging diese in Deutschland durch die Pandemie um 0,3 Jahre zurück, in Großbritannien hingegen um ein Jahr. Ein 2021 geborener Brite hat statistisch gesehen 78,73 Lebensjahre vor sich, eine Britin 82,75 Jahre (Deutschland: 78,5/83,2 Jahre).

Krasser noch sind die Unterschiede im Land: Wer in Blackpool, einer der ärmsten Städte im Vereinigten Königreich, oder in Middlesbrough wohnt, lebt im Schnitt neun Jahre weniger als die Menschen, die in den wohlhabenden Londoner Stadtteilen Chelsea oder Camden zu Hause sind.

4 Die politisch-wirtschaftliche Krise

Seit dem 25. Oktober 2022 ist Rishi Sunak britischer Premierminister. Sein Amtsantritt beendete eine wochenlang schwelende Regierungskrise, die durch die Skandale von Premier Boris Johnson ausgelöst wurde und die schließlich Johnson und auch seiner Kurzzeit-Nachfolgerin Liz Truss das Amt kostete.

Rishi Sunak ist seit Oktober 2022 britischer Premier. Seine Umfragewerte sind nicht gut.
Rishi Sunak ist seit Oktober 2022 britischer Premier. Seine Umfragewerte sind nicht gut.

© AFP/Jessica Taylor

Sunaks Regierung steht vor großen Aufgaben, vom Volk gewählt ist sie nicht. In Umfragen liegen die Konservativen etwa 18 Prozent hinter der Labour-Party. Nur 26 Prozent sind mit Sunaks bisheriger Arbeit zufrieden.

Nach Angaben der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ist die britische Wirtschaft heute noch immer schwächer als vor der Pandemie. Der Internationale Währungsfonds sagt für dieses Jahr eine Rezession voraus, während er für alle anderen G7-Staaten ein Wachstum erwartet.

Einem Bericht von Bloomberg zufolge kostet der Brexit das Land in jedem Jahr umgerechnet 1,14 Milliarden Euro. Die Wirtschaftskraft ist demnach heute um vier Prozent geringer als sie bei einem Verbleib in der EU hätte sein können.

Es ist eindeutig, dass der Brexit es der britischen Wirtschaft schwerer macht, zu wachsen.

Carl Emmerson, Institute for Fiscal Studies

„Die EU ist ein sehr reicher Teil der Welt“, sagte Carl Emmerson, Vizedirektor des Thinktanks „Institute for Fiscal Studies“, der BBC. „Und wir haben uns – egal ob man das gut oder schlecht findet – dazu entschieden, den Handel mit dieser Gruppe an Ländern deutlich zu erschweren. Es ist also eindeutig, dass der Brexit es der britischen Wirtschaft schwerer macht, zu wachsen.“

Nach Angaben der Welthandelsorganisation WTO hatte Großbritannien 2022 das weltweit zweithöchste Handelsdefizit mit umgerechnet 266 Milliarden Euro. Die Ökonomin Diane Coyle hält im Gespräch mit der BBC die wirtschaftliche Lage des Landes für selbst verschuldet. „Das Problem ist eine lang anhaltende Schwäche, mit einer dauerhaften Unterfinanzierung des privaten und öffentlichen Sektors und einem Abbau von staatlichen Hilfen und Infrastruktur. Aber all das wäre wichtig, damit eine Wirtschaft wachsen kann.“

5 Die Identitätskrise

Zugegeben, einem ganzen Land eine Identitätskrise unterstellen zu wollen, mag etwas übertrieben sein. Doch der Tod von Queen Elizabeth II war eine Zäsur in der modernen britischen Geschichte und löste auch eine Debatte darüber aus, wie das Land eigentlich weitermachen soll – ohne sie.

Monarchie oder doch Republik? Auf welchem Weg ist Großbritannien?
Monarchie oder doch Republik? Auf welchem Weg ist Großbritannien?

© dpa/Andreea Alexandru

Was zuvor undenkbar war, wurde nun Wirklichkeit. Selbst große Medien wie die BBC oder die Times diskutierten über ein Ende der Monarchie oder zumindest über einen Wandel.

Umfragen zeigen, dass die Britinnen und Briten in manchen grundsätzlichen Fragen sehr unterschiedlicher Meinung sind. Nur noch für 30 Prozent der Bevölkerung ist die Monarchie „sehr wichtig“ – ein historischer Tiefpunkt. 45 Prozent würden sie lieber abschaffen oder interessieren sich gar nicht dafür.

58
Prozent der Briten erwarten einen anhaltenden negativen Einfluss auf die Wirtschaft durch den Brexit.

Eindeutiger scheint die Meinung zum Brexit zu sein. Einer aktuellen Yougov-Umfrage zufolge würden sich heute 47 Prozent für den Verbleib in der EU entscheiden, nur 33 Prozent stehen noch immer hinter dem Austritt. 58 Prozent erwarten einen anhaltenden negativen Einfluss auf die Wirtschaft durch den EU-Austritt.

Ein immer stärker werdendes Thema ist die wachsende Ungleichheit im Land, wenn es um Einkommen und Vermögen geht. Laut der Organisation Equality Trust schneidet Großbritannien hier besonders schlecht ab. Die ärmsten 20 Prozent verdienen im Schnitt 12-mal weniger als die reichsten 20 Prozent. In Europa ist der Wert nur in Italien höher. In Umfragen sprechen sich inzwischen 67 Prozent für eine gerechtere Umverteilung aus.

Und schließlich gibt es da noch die Unabhängigkeitsbestrebungen in Teilen des Königreichs. So waren zuletzt 42 Prozent der Schotten, 27 Prozent der Nordiren und 18 Prozent der Waliser für die Unabhängikeit ihres Landesteils.

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