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Ein russischer Streubombenträger am Rande der ukrainischen Stadt Sloviansk.

© IMAGO/ZUMA Wire

Update

Tödlich für Feinde und Zivilisten: Was die US-Streumunition für Kiews Offensive bedeutet

Nach langem Zögern ringen sich die USA durch, Streumunition in die Ukraine zu liefern. Die Waffe ist aufgrund ihrer Gefahr für Zivilisten umstritten. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

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Fast 500 Tage ist es nun her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Am Samstag erreicht der Krieg diese traurige Marke. Damit die Ukraine sich selbst verteidigen kann, hat der Westen in dieser Zeit allerlei Equipment – allen voran Waffen – gen Kiew geschickt: Mehrfachraketenwerfer, Panzer, Artilleriemunition und bald sogar Kampfjets. Nicht selten gingen den Lieferungen hitzige Diskussionen voraus.

Dass Kiew nun Streumunition für seine stockende Gegenoffensive aus den USA erhält, stellt jedoch bisher eine der heikelsten Entscheidung dar. Am Freitag genehmigte US-Präsident Joe Biden laut einem Bericht der „Washington Post“ die Lieferung aus den Beständen des Verteidigungsministeriums.

Die Nachrichtenagentur AP schrieb, in einem neuen, rund 800 Millionen Dollar schweren militärischen Hilfspaket werde das Pentagon Kiew tausende Streubomben zur Verfügung stellen. Offiziell soll die Entscheidung im Laufe des Tages bekannt gegeben werden.

Doch heiligt der militärische Zweck ein international geächtetes Mittel? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

1. Wie funktioniert Streumunition?

Streumunition kann im Krieg je nach Bedarf gegen verschiedene Ziele eingesetzt werden: Soldaten in ihren Schützengräben, Artillerie, Panzer. Die Funktionsweise ist dabei immer ähnlich. Ein vom Boden oder aus der Luft abgefeuerter Träger öffnet sich und verstreut kleinere Submunition – sogenannte „Bomblets“ – von einigen Dutzend bis zu Hunderten über einem Gebiet.

Die Möglichkeit, größere Flächen mit Sprengköpfen oder Minen zu beschießen, ist aus militärischer Sicht ihr großer Vorteil. Ein Vorteil, den bisher vor allem die russischen Truppen auf ihrer Seite hatten.

2. Warum ist die Munition so umstritten?

Umstritten ist die Munitionsart vor allem wegen ihrer Gefahr für Zivilisten – entweder weil sie in einem Gebiet explodiert, in dem sich Zivilbevölkerung und Soldaten vermischen, oder weil „Bomblets“ nicht zünden und als Blindgänger die beschossene Region verminen. Von mehr als 120 Ländern ist ihr Einsatz deswegen geächtet, die USA zählen jedoch nicht dazu.

In einem Bericht aus dem März 2022 beschreibt der Wissenschaftliche Dienst des amerikanischen US-Kongresses große Unterschiede in den angegebenen Fehlerraten der unterschiedlichen Hersteller von Streumunition. Diese schwanke zwischen zwei und fünf Prozent, „während Minenräumspezialisten häufig über Fehlerquoten von 10 bis 30 Prozent berichten“.

Wie hoch die Fehlerquote und damit die Gefahr für Zivilisten liegt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: Wie alt sind die „Bomblets“? Landen sie in Bäumen, auf schlammigen Untergrund oder auf trockenem Boden? Sind sie nach ihrem Aufprall bereits beschädigt?

Eine besondere Gefahr für Zivilisten, aber auch die eigenen Soldaten, stelle Submunition dar, die nicht mit einer Selbstzerstörungseinrichtung ausgestattet sei, sagt Johann Höcherl, Professor am Lehrstuhl für Waffen- und Munitionstechnik an der Universität der Bundeswehr in München im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Als die Amerikaner beispielsweise im Irakkrieg 2003 eben jene Munition abfeuerten, hätten sie beim späteren Vorrücken ihre eigenen Minen wieder räumen müssen. „Dass häufig ‚dumme‘ statt ‚schlaue‘ Munition eingesetzt wird, hängt vor allem mit den damit verbundenen, geringeren Kosten zusammen“, erklärt Höcherl.

In den Überlegungen der US-Regierung spielt all das eine Rolle. Denn sowohl die Herstellung als auch der Einsatz oder die Weitergabe von Streumunition mit einer Fehlerquote von mehr als einem Prozent ist in den USA gesetzlich eigentlich verboten. Laut dem Bericht der „Washington Post“ plant die Biden-Regierung, dieses durch eine Sonderregelung zu umgehen.

Bereits am Donnerstag hatte Pentagon-Sprecher Brigadegeneral Patrick Ryder erklärt, dass einige der älteren Varianten der Waffen eine Blindgängerquote von über zwei Prozent aufweisen würden. Sollte sich die Biden-Regierung jedoch zu einer Lieferung durchringen, dann nur für Sprengstoffe mit einer niedrigeren Quote, sagte er. 

Welche verehrenden Folgen der Einsatz von Streumunition für die Zivilbevölkerung hat, ist historisch eindeutig dokumentiert. So wurden allein in Laos nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes 10.000 Menschen durch zurückgelassene US-Streumunition aus den 60er und 70er Jahren verletzt oder getötet.

3. Welchen militärischen Nutzen besitzt Streumunition?

Unbestritten ist jedoch auch der militärische Nutzen der Munition. Nicht ohne Grund schrieb Kiew sie bereits im vergangenen Jahr auf seine Wunschliste an Washington.

„Mit vielen kleinen Sprengköpfen oder Minen bestückt, wären die Ukrainer in der Lage, über eine größere Fläche das Nachziehen russischer Reserveeinheiten zu verlangsamen“, sagte Militärexperte Oberst Reisner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Mögliche Durchbruchsstellen in der russischen Verteidigung könnten dadurch besser isoliert werden.

Ben Hodges, ehemaliger Kommandeur der US-Armee in Europa, erklärte gegenüber dem britischen „The Economist“, die ukrainischen Truppen könnten zudem das russische Feuer aus Schützengräben und Artillerie unterdrücken, wodurch sie mehr Zeit hätten, sich einen Weg durch die feindlichen Minenfelder zu bahnen.

Der Einsatz von Streumunition sei „eindeutig eine Fähigkeit, die bei jeder Art von Offensivoperation nützlich wäre“, sagte Pentagon-Sprecher Ryder.

4. Warum schwenken die USA jetzt um?

Dass die USA sich ausgerechnet jetzt zu einer Entscheidung durchgerungen haben, dürfte kein Zufall sein. „Die Waffen erweitern den Vorrat an Munition, die der Ukraine zur Verfügung gestellt werden kann“, sagte Peter Rough, Direktor des Europazentrums am Hudson Institute in Washington, dem Tagesspiegel. Das sei wichtig, denn die Artilleriebestände würden knapp.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte bereits vor einigen Monaten davor, dass in der Ukraine derzeit deutlich mehr Munition verbraucht als produziert werde. Der Munitionsverbrauch in dem seit 16 Monaten andauernden Krieg ist so groß, dass sogar die mächtige amerikanische Rüstungsindustrie an ihre Grenzen stößt.

US-Firmen tragen den Hauptteil der Waffenproduktion für die Ukraine. 40-mal musste die Regierung von US-Präsident Biden daher schon auf die nationalen Waffenvorräte zurückgreifen, um der Ukraine die gewünschte Hilfe zukommen zu lassen. Auch muss immer wieder Munition im Ausland teuer zugekauft werden.

Sehr wahrscheinlich besäße die Entscheidung zudem eine politische Dimension, erklärt Experte Rough. „Die Zusage soll möglichen Irritationen beim in der kommenden Woche anstehenden Nato-Gipfel in Litauen vorweggreifen“, meint er. Denn dort werde der Ukraine, anders als von ihr gewünscht, kein konkreter Zeitplan für einen Beitritt zu dem Militärbündnis angeboten.

Peter Schroeder, Russland-Experte beim Center for a New American Security in Washington, sagte dem Tagesspiegel, generell würden die USA immer genau abwägen, ob Waffenlieferungen Russland zu einer weiteren Eskalation veranlassen könnten, ob die Ukraine die angeforderten Waffen auch wirklich brauche und bedienen könne und welche Auswirkungen dies auf die eigenen Munitionsvorräte habe. „Fast immer haben die USA der Ukraine aber am Ende nachgegeben.“

Im aktuellen Fall sei es auch um moralische Fragen gegangen, weil Zivilisten gefährdet seien, sagt Schroeder, der bis März für die US-Regierung gearbeitet hat. Dass Washington der Lieferung von Streumunition jetzt zustimmt, zeige, dass sich das Argument, diese Waffen würden der Ukraine auf dem Schlachtfeld helfen, durchgesetzt habe.

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