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Demonstranten mit Plakaten gegen Rassismus im Februar 2023.

© AFP/FETHI BELAID

Umgang mit afrikanischer Identität: Die Minderheit schwarzer Tunesier wird ignoriert

Der Präsident hetzt gegen Schwarze. Dabei sind zehn Prozent der Tunesier schwarz. Aber im postkolonialen Nationalismus war kein Platz für diese Minderheit. Das muss auch Europa interessieren.

Ein Gastbeitrag von Houda Mzioudet

Als der tunesische Präsident Kais Saied schwarzafrikanischen illegalen Einwanderern vorhielt, dem nordafrikanischen Land seine „arabisch-islamische“ Identität zu nehmen, waren einige Beobachter außerhalb des afrikanischen Kontinents irritiert.

Die Theorie von einem „Bevölkerungsaustausch“ war bisher eher in Europa vertreten worden, wo Afrikaner und Araber als Bedrohung für die weiße, christliche europäische Zivilisation gebrandmarkt wurden. So von Ungarns Präsident Viktor Orban oder dem französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour. Andererseits hat die Europäische Union keine Bedenken, ein Flüchtlingsabkommen mit Tunesien abzuschließen.

In Tunesien folgte auf die Präsidentenäußerungen eine Hexenjagd auf Schwarze, die zu rassistischer Gewalt führte, zu Vertreibungen und dem Niederbrennen ihres Eigentums – ob sie regulär oder irregulär im Lande waren. Aber auch die Minderheit der schwarzen Tunesier blieb nicht verschont.

10 bis 15 Prozent der Tunesier sind schwarz

Sie stellen die größte Minderheitengruppe des Landes dar – inoffiziellen Statistiken zufolge sind es zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung, mindestens eine Million Menschen von zwölf Millionen Einwohnern. Es ist eine historisch marginalisierte, unsichtbare und stille Minderheit, die bisher wenig Unterstützung der Zivilgesellschaft erhielt.

Sie lebt hauptsächlich im Süden des Landes und in der zweitgrößten Stadt des Landes, Sfax. Von hier versuchen auch viele Migranten aus Subsahara-Afrika nach Europa zu gelangen.

Die Abwesenheit schwarzer Tunesier im öffentlichen Raum lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Da ist einmal die allgemeine psychologische Erschöpfung nach dem Putsch von Präsident Saied und dem darauffolgenden harten Vorgehen gegen Aktivisten und Organisationen der Zivilgesellschaft.

Postkolonialer Nationalismus erlaubte keine Minderheiten

Dies wiederum schuf eine allgemeine Atmosphäre der Angst vor Repressalien und Verhaftungen. Ein weiterer Faktor ist das Versäumnis des tunesischen Staates, allgemeine Bildung und Sensibilisierung für das Thema Rassismus in das tunesische Bildungssystem aufzunehmen.

Eine tieferliegende Ursache aber ist die Homogenisierungspolitik unter Präsident Habib Bourguiba nach der Unabhängigkeit. Alle Unterscheidungsmerkmale unter den Tunesiern wurden ausgelöscht zugunsten einer erfundenen und imaginären kollektiven tunesischen Identität.

Diese Form des postkolonialen Nationalismus, die vorgab, die verschiedenen Gemeinschaften zu einer tunesischen Umma (Gemeinschaft) zu vereinen, ähnelt dem Vorgehen des Gründers der modernen Türkei, Kemal Atatürk, der das post-osmanische Türkentum formte.

Geleitet vom Grundsatz der Gleichheit wurden in Wirklichkeit alle rassischen, stammesbedingten, religiösen und ethnischen Unterschiede ausgelöscht, wodurch Minderheitengruppen unsichtbar und unterdrückt wurden.

Dadurch wurde auch die Erinnerung an die Sklaverei in Tunesien verdrängt, die zwar 1846 von Ahmed I. Bey formell abgeschafft wurde, aber in der Praxis noch lange weiterlebte. 1890 setzte die französische Protektoratsmacht ein erneutes Verbot durch.

Nach den rassistischen Äußerungen des Präsidenten gegen Migranten aus Subsahara demonstrierten viele Tunesier.

© AFP/FETHI BELAID

Doch die „rigide, farbenblinde“ nationale Politik setzte die Stigmatisierung schwarzer Tunesier fort, die nie die volle Gleichberechtigung mit der (nicht-schwarzen) Bevölkerungsmehrheit erreichten. Kritik und jede Form von Dissens an diesem autoritären Modell einer homogenen und geeinten Nation wurde schnell als Anstiftung zur Spaltung angesehen.

Auch unter dem Regime von Nachfolger Zine el Abidine Ben Ali wurde jedes Engagement gegen den Rassismus gegen Schwarze als Versuch betrachtet, in der „harmonischen“ tunesischen Gesellschaft Aufruhr (fitna) zu säen.

Dieses idyllische Konzept hat schwarze Tunesier nie als vollwertige Bürger integriert, die seit der Unabhängigkeit nicht nur sozial und wirtschaftlich marginalisiert sind, sondern auch in der nationalen Erzählung fehlen. Gleichzeitig wurden sie von Bourguibas Entwicklungsprojekten und „Empowerment-Maßnahmen“ ausgeschlossen, da seine offizielle Politik die Rasse oder jede andere ethnische Zugehörigkeit leugnete.

Diese Unsichtbarkeit wurde nach der Revolution von 2011 infrage gestellt, als eine Art Erwachen unter schwarzen tunesischen Aktivisten aufkam. Sie griffen auf mündliche Überlieferungen und seltenes und vergessenes Archivmaterial von schwarzen tunesischen Helden zurück, um solche Figuren hervorzuheben und ihren Beitrag zur tunesischen Geschichte aufzuzeigen.

Ein herausragendes Ereignis, das einen historischen Meilenstein darstellte, war der Marsch schwarzer Aktivisten im Jahr 2014, der vom Süden Tunesiens (Jerba, Zarzis, Medenine, Gabes) ausging, in Sfax Halt machte und schließlich Tunis erreichte, wo sie das tunesische Parlament besuchten, sich mit einigen Abgeordneten der ANC (Assembly of National Constituency) trafen.

Aber die einzige tunesische Aktivistenorganisation, die sich für die Belange schwarzer Tunesier einsetzt, M’nemty, und ihre Präsidentin, Saadia Mosbah, sehen sich nach wie vor mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert. Sie werden verleumdet und von Anhängern des tunesischen Präsidenten mit versteckten und offenen Online-Drohungen überzogen.

Die Versöhnung mit der afrikanischen Dimension Tunesiens ist eine der Herausforderungen, um die geopolitische ‘Identität’ Tunesiens besser zu verstehen.

Marta Scaglioni, Expertin für Tunesiens Sklavereigeschichte

Dies mag der Grund dafür sein, dass sich viele schwarze Tunesier noch immer nicht zu Wort melden.

Während Bildung für schwarze Tunesier zumindest theoretisch eine Form des sozialen Aufstiegs darstellen könnte, ist die Realität vor Ort jedoch eine andere. Sie ist nach wie vor von Diskriminierung geprägt, einschließlich des im Süden tief verankerten Bildes der schwarzen Tunesier als Diener.

Dieses stereotype Bild hindert viele schwarze Tunesier daran, eine höhere soziale und bildungsmäßige Position anzustreben. Angesichts der gläsernen Decke, die ihnen den Aufstieg in der sozialen Hierarchie verwehrt, bleiben die schwarzen Tunesier unsichtbar.

Dabei bleibt die Geschichte der schwarzen Tunesier das fehlende Glied in der Kette der offiziellen Geschichte Tunesiens. Die Rekonstruktion dieser Geschichte ist ein wichtiges Projekt, das von Forschern und allen Teilen der Zivilgesellschaft ernst genommen werden muss.

Denn wie die Spezialistin der Sklavengeschichte in Tunesien, Marta Scaglioni, sagt: „Die Versöhnung mit der afrikanischen Dimension Tunesiens ist eine der Herausforderungen, die angegangen werden müssen, um die geografische und geopolitische ‘Identität’ Tunesiens besser zu verstehen und zu akzeptieren.“

Dies ist die übersetzte und gekürzte Fassung eines auf der Plattform der Arab Reform Initiative (ARI) erschienen Beitrags.

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