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Klinikpersonal streikt

© REUTERS / Reuters/Toby Melville

Streik der Pflegekräfte: Woran das britische Gesundheitssystem krankt

Angestellte im Gesundheitswesen gehen seit Wochen auf die Straße und fordern mehr Lohn. Die Regierung sperrt sich – mit erheblichen Folgen für die Bevölkerung.

Als Pat Cullen, Chefin von Englands größter Gewerkschaft für Pflegeberufe, sich Ende vergangenen Jahres mit dem britischen Gesundheitsminister Steve Barclay traf, kam sie sofort zur Sache.

Ihre Forderungen: Wolle die Regierung einen großflächigen Streik der Pflegekräfte verhindern, müsse sie mehr zahlen. Barclay bat um Verständnis, wirtschaftlich sei das „sehr herausfordernd“.

Nur wenige Tage später streikten 10.000 Pflegekräfte erstmals in der mehr als 100-jährigen Geschichte der Gewerkschaft. Diese Woche geht es in die dritte Runde. Eine Herausforderung wird das vor allem für Patienten.

Dabei soll das ohnehin schon restriktive Streikrecht Großbritanniens nach Plänen der Regierung noch weiter eingeschränkt werden. Premierminister Rishi Sunak will dem Personal in überlebenswichtigen Branchen wie Gesundheit, Feuerwehr oder Bildung die Arbeitsniederlegung verwehren, um die öffentliche Grundversorgung sicherzustellen.

19
Prozent Lohnerhöhung fordern die Pflegekräfte in Großbritannien

Das Klinikpersonal will sich nicht einschüchtern lassen. Komme es zu keiner Einigung, wollen sie schon im Februar erneut die Arbeit niederlegen. „Schweren Herzens“ habe man diesen Beschluss gefasst, sagte Gewerkschaftschefin Cullen. Auch am Mittwoch gingen wieder Tausende Pflegekräfte auf die Straße.

Es sei ein „verzweifelter Versuch“, das angeschlagene Gesundheitssystem NHS noch zu retten. Um die Patientenversorgung sicherzustellen, müsse „das Problem Zehntausender unbesetzter Stellen“ endlich angegangen werden. Laut Zahlen aus dem Herbst vergangenen Jahres waren 2022 mehr als 130.000 Stellen unbesetzt, es fehlen allein mehr als 40.000 Krankenschwestern.

Der NHS fällt nicht erst jetzt auseinander.

Mark Dayan, Forscher beim Thinktank Nuffield Trust

Die Krankenpfleger fordern neben mehr Personal auch 19 Prozent mehr Lohn – um die Inflation von aktuell über zehn Prozent und jahrelange Einbußen bei den Reallöhnen auszugleichen. Es sei daher vor allem eine „Wiederherstellung des Gehalts“, keine wirkliche Lohnerhöhung, argumentiert die Gewerkschaft.

In Westminster sieht man das anders. Bisher wollte Großbritanniens Regierung unter Premier Sunak nur über das kommende Finanzjahr verhandeln und das Angebot von 4,5 Prozent mehr Lohn nicht erhöhen.

Zu wenig für die streikenden Krankenpfleger. „Die Regierung und auch der Premierminister weigern sich anzuerkennen“, sagte die englische Gewerkschaftlerin Patricia Marquis vergangene Woche, „dass das Gesundheits- und Pflegesystem in einer Krise ist“. Gestreikt werde deshalb nicht nur für mehr Geld, sondern auch „aus Protest gegen ein unsicheres System“.

Gesundheitssystem vom Staatshaushalt abhängig

Die Krise des britischen Gesundheitssystems NHS hat sich lange angekündigt, wurde 2016 schon zum Symbol der Pro-Brexit-Kampagne. Statt „350 Millionen Pfund“ pro Woche nach Brüssel zu schicken, sollte der NHS finanziert werden. Die Zahl war damals schon falsch, traf bei der Bevölkerung aber einen wunden Punkt.

Denn auf den National Health Service ist man im Vereinigten Königreich stolz. Behandlungen sind weitestgehend kostenlos, lediglich bei Brillen oder Zahnersatz muss zugezahlt werden. Vor 75 Jahren gegründet, baut er anders als in Deutschland auf ein steuerfinanziertes Einheitssystem. Auch deshalb ist das britische Gesundheitssystem so eng an die Finanzpolitik der Regierung und den Staatshaushalt geknüpft.

Die Regierung und auch der Premierminister weigern sich anzuerkennen, dass das Gesundheits- und Pflegesystem in einer Krise ist.

Patricia Marquis, englische Gewerkschaftlerin

Die jahrzehntelange Sparpolitik der Regierungen haben das ohnehin schon marode System nun schwer erkranken lassen. „Der NHS fällt nicht erst jetzt auseinander“, erklärt Mark Dayan auf Anfrage des Tagesspiegels. Er forscht bei der Denkfabrik Nuffield Trust, der die Gesundheitsversorgung im Vereinigten Königreich analysiert.

Die Hauptprobleme – lange Wartezeiten und Platzmangel in Krankenhäusern – seien seit Jahren bekannt und „wurden durch die Pandemie und Winterviren zusätzlich verschärft“. Immer mehr Menschen suchen deshalb bei privaten Krankenhäusern Hilfe. Das aber „untergräbt den Gleichheitsgrundsatz und schafft ein System mit zwei Ebenen“, kritisiert Dayan. Auch deswegen gibt es für das streikende Klinikpersonal in der Bevölkerung viel Rückendeckung.

Aktuellen Zahlen des NHS zufolge warteten im Dezember allein sieben der 65 Millionen Einwohner des Landes auf Operationen. Bei Schlaganfällen oder schwereren Notfällen dauert es im Schnitt ganze 90 Minuten, ehe der Rettungswagen eintrifft. Bei weniger eiligen Fällen sogar fast viereinhalb Stunden.

7
Millionen Menschen in Großbritannien warten derzeit auf eine Operation

Selbst im überforderten Berliner Rettungsbetrieb geht es deutlich schneller. Im zweiten Pandemiejahr 2021 dauerte es laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft keine zehn Minuten ehe der Krankenwagen Betroffene erreichte.

Personalmangel verschärft die Probleme des NHS

Auch die Abbrecherquote ist für Dayan ein „ernsthaftes Problem“. Die Zahl der Ärzte und Krankenpfleger, die die Ausbildung verlassen, werde von der Regierung kaum verstanden. Der Brexit hat diese ohnehin schon angespannte Personallage noch einmal verschärft.

Der dramatische Rückgang in der Krankenpflege konnte durch eine starke Rekrutierung aus Nicht-EU-Ländern wie Indien abgefedert werden“, sagt Dayan. Doch in der Anästhesie oder Psychiatrie fehlen Fachkräfte.

Um die Finanzierung des Gesundheitssystems langfristig zu sichern – und vom Staatshaushalt unabhängiger zu machen – fordern einige nun einen kompletten Umbau des Systems. Statt über Steuern könne der NHS besser über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden.

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Dayan hält das für keine Lösung: „Eine Umstellung der Finanzierung löst keine Probleme beim Personal, bei der Bettenknappheit oder der Ausrüstung.“

Zu Pandemiebeginn gab es laut der British Medical Association für 1000 Einwohner in Großbritannien 2,2 Intensivbetten – weniger Intensivbetten gibt es bei den OECD-Ländern nur im ähnlich steuerfinanzierten Schweden. Spitzenreiter Deutschland kommt demnach auf mehr als dreimal so viele Betten wie das Vereinigte Königreich.

Um das marode System doch noch zu retten, gibt sich Pat Cullen weiter gesprächsbereit: „Ich bin bereit, mich auf halbem Weg zu treffen. Die Regierung sollte mein Friedensangebot annehmen.“

Ein Ende der landesweiten Streikserie ist unterdessen kaum absehbar. Kommende Woche gehen Lehrkräfte auf die Straße, für März haben Assistenzärzte einen Ausstand angekündigt.

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