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Ukrainische Soldaten während einer Übungseinheit.

© imago/ABACA/Ukrinform

Nach Start der Gegenoffensive: Die ersten Tage deuten an, was die Ukraine noch erwartet

Nach dem Start der Gegenoffensive ist die Lage diffus. Erste Informationen von der Front deuten jedoch einen zähen und verlustreichen Kampf für beide Seiten an.

Die Ukraine hat ihre lang erwartete Gegenoffensive Anfang der Woche begonnen. „Der Krieg befindet sich in einer neuen Phase“, sagt Oberst Markus Reisner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Wie es in den nächsten Wochen weitergehe, entscheide sich jetzt.

Zum Einsatz kommen dabei auch die „Brigaden der Offensive“, also Kampfverbände, die im Westen trainiert und mit Nato-Waffen ausgestattet wurden. Insgesamt ist die Lage unübersichtlich, erste Erkenntnisse gibt es aber. Eine Annäherung zu den wichtigsten Fragen.

Wo wird derzeit gekämpft?

Innerhalb der ersten Woche haben sich zwei neue Hauptachsen der Gegenoffensive im Süden herauskristallisiert. Und auch in Bachmut halten die Kämpfe weiter an.

Die drei Hauptachsen der Gegenoffensive.

© Rita Boettcher

1. Gebiet Saporischschja, Tokmak-Achse

Nach heftigem ukrainischem Artilleriebeschuss auf die russischen Stellungen rückten Kampfverbände, bestehend aus Panzern und Infanterie, nahe des Ortes Mala Tokmatschka vor. Dabei wurden auch deutsche Leopard-Panzer eingesetzt.

Georeferenzierte Aufnahmen zeigen zudem, wie dort zwei ukrainische Panzerfahrzeuge in Folge eines russischen Drohnenangriffs zerstört wurden. . Vorstöße soll es zudem auch 40 Kilometer weiter westlich, nahe dem Dorf Lobkowe gegeben haben. Insgesamt gelang es Kiews Truppen, zwischen zwei und drei Kilometer vorzudringen

Das Ziel des Vorstoßes ist wahrscheinlich der rund 40 Kilometer südlich gelegene, strategisch wichtige Ort Tokmak. Das gesamte Gebiet zwischen den Orten ist allerdings von ausgefeilten, in fünf Zonen gestaffelten Defensivanlagen durchzogen.

Von Tokmak aus würden sich den Ukrainern weitere Angriffsmöglichkeiten in Richtung Süden eröffnen. Das Gebiet hinter Tokmak bis hin zur größeren Stadt Melitopol (rund 60 Kilometer) und weiter an die Küste des Asowschen Meeres (weitere rund 40 Kilometer) sind kaum noch befestigt. Hier wäre wahrscheinlich ein schneller Durchmarsch möglich, auch dank der Schnellstraße T0401, die sich von Mala Tokmatschka bis nach Melitopol zieht.

2. Gebiet Donezk, Welyka Nowosilka-Achse

In der Region, genauer um den Ort Welyka Nowosilka, rund 90 Kilometer westlich der Gebietshauptstadt Donezk, dauern die Kämpfe wohl seit Sonntag an. Auch dort entstand eines der wenigen Videos eines ukrainischen Angriffs, das tatsächlich verifiziert werden kann. Die Drohnenaufnahme zeigt, wie rund zehn gepanzerte ukrainische Fahrzeuge von Minen und/oder Artilleriebeschuss zerstört werden, als sie versuchen, eine Stellung zu etablieren.

Die Ukrainer nutzen dabei auch französische und britische Panzerfahrzeuge und haben aus mindestens vier Richtungen angegriffen. Interessant: An dieser Stelle der Front sind die russischen Verteidigungsanlagen sehr viel weniger stark ausgebaut als zum Beispiel um Tokmak. Wie weit die Ukrainer hier vorrücken konnten, ist unklar. Immer wieder gibt es kleinere Vorstöße in die eine oder andere Richtung. Die Angaben reichen von einem bis zehn Kilometer.

3. Gebiet Bachmut, der östlichste Teil der aktuellen Vorstöße

Kurz nachdem die Wagner-Söldner die Stadt am 20. Mai für erobert erklärt hatten, begannen die ukrainischen Truppen an den Flanken mit lokalen Gegenstößen, um die Stadt einzukreisen. Inzwischen sind die Wagner-Truppen ganz aus der Stadt abgezogen und durch Einheiten der regulären russischen Armee ersetzt.

Auch die Ukrainer hatten zwischendurch eine Pause in den Angriffen eingelegt, um sich zu regruppieren. Mittlerweile versuchen jedoch beide Seiten, wieder Vorstöße zu erzielen.

„Die Lage ist angespannt in allen Bereichen der Front“, erklärte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Freiatg auf Telegram. Russland richte seinen Fokus weiterhin in Richtung der Donezker Städte Lyman, Bachmut, Awdijiwka und Marjinka. „Die schweren Kämpfe gehen weiter.“ Die ukrainischen Truppen wehrten die russischen Angriffe jedoch ab.

Für die ukrainische Gegenoffensive sind jedoch die beiden Achsen weiter südlich mit großer Wahrscheinlichkeit relevanter.

Warum gibt es mehrere Achsen?

Kiews Truppen versuchen, die russischen Truppen an mehreren Standorten zu binden, deren Reservetruppen zum Rotieren zu bringen und so Schwachstellen in der Verteidigung zu erzeugen und auszunutzen. Gelingt das, können weitere Bataillone nachgeschoben werden.

Dort, wo sich die Ukraine die besten Chancen für einen Durchbruch ausrechnet, entsteht der Hauptschlag der Offensive.

Eine große Unbekannte dabei bleibt, wo die Ukraine ihre Reserveeinheiten stationiert hat. Die beiden derzeitigen Hauptachsen liegen etwa 100 Kilometer voneinander entfernt. Ein schneller Wechsel im Fall eines Durchbruchs ist deswegen kaum zu schaffen.

Ein ukrainischer Soldat an der Frontlinie in Donezk.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Madeleine Kelly

Wahrscheinlicher ist es daher, dass sich die restlichen Brigaden im Hinterland der jeweiligen Achse bereits in Stellung gebracht haben.

Möglicherweise werden zu diesem frühen Zeitpunkt aber auch Kräfte zurückgehalten, um an einer anderen Stelle eine neue Achse zu formen. Die kommenden Tage werden hier Aufschluss geben.

Insgesamt soll Kiew zwölf neue Brigaden (á 4000 bis 5000 Soldaten) über den Winter aufgebaut haben. Vier davon sind offenbar an den beiden Süd-Achsen in der ersten Angriffswelle bereits im Einsatz.

Waren die ersten Durchbruchsversuche erfolgreich?

Nein. Ein Durchbruch ist der Ukraine bisher nicht gelungen. Auch die erste Verteidigungslinie haben Kiews Kämpfer meist noch nicht erreicht. Das wäre jedoch notwendig, um zumindest einen ersten größeren Erfolg vermelden zu können.

Zwei Leopard-Panzer unten links im Bild im Einsatz während der ukrainischen Offensive.

© Twitter

„Aktuell sind wir in den ersten Runden eines Boxkampfes“, beschreibt Reisner die Lage. Ein schneller K.o. in Form eines Durchbruchs habe sich nicht eingestellt. Sollte das auch in den kommenden Tagen so bleiben, gehe es vor allem um Ausdauer.

„Die Russen versuchen Runde für Runde durchzuhalten, während die Ukraine nach der Lücke in der Verteidigung sucht – sei es durch Vorstöße, die dann verstärkt werden, oder durch Ablenkungsmanöver“, analysiert er.  

Welche Probleme hat die Ukraine?

Russland setze bei seiner Verteidigung offenbar verstärkt Kampfhubschrauber und teils auch Kampfjets ein, sagt Reisner. Bisher spielte die russische Luftwaffe im Krieg nur eine untergeordnete Rolle. Auch mobile Lenkwaffentrupps, die sich schnell verschieben lassen, hätten die Ukrainer womöglich überrascht.

Hinzukommen die vielen Minenfelder, welche vorgelagert zu ersten Verteidigungslinie angelegt wurden und das Vorrücken verlangsamen. Ein bekanntes Problem ist zudem die fehlende Luftunterstützung. Kampfjets und Kampfhubschrauber sind nur in sehr geringem Maße vorhanden. Das russische Artilleriefeuer lässt sich so nur schwer unterbinden. Bereits vor Wochen erklärten Experten, die Ukraine werde vom Westen dazu gezwungen, „auf die harte Tour zu kämpfen“.

Wie läuft ein Angriff militärtheoretisch ab?

Nachdem bestenfalls eine Schneise durch die Minenfelder freigeräumt wurde, „wird die Gefechtsbereitschaft erhöht, und in eine breite Gefechtsformation übergegangen“, erklärt Experte Reisner. Das Tempo werde auf wenige km/h gedrosselt, „mehrere Panzer oder Kampfschützenpanzer fahren nebeneinander und eröffnen das Feuer auf den Gegner“.

Das Gelände in der Südukraine ist dabei Fluch und Segen zugleich. Weite, ebene Flächen mit wenig Deckung ermöglichen zwar theoretisch ein schnelles Vorrücken, machen es dem Feind aber gleichzeitig leicht, Vorstöße zu entdecken und anzugreifen.

Wie hoch sind die Verluste der Ukraine nach den ersten Tagen?

Wie über den gesamten Kriegsverlauf gibt es dazu keine genauen Angaben. Der amerikanische Sender CNN berichtet unter Berufung auf US-Regierungsvertreter jedoch, es hätte beim ersten Versuch, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, „erhebliche Verluste“ bei Soldaten und Ausrüstung gegeben. Der Widerstand sei größer als erwartet gewesen. Eine Einschätzung, die auch Oberst Reisner teilt.

Nicht bestätigte Aufnahmen zeigten am Freitag einen zerstörten Leopard 2a5 Panzer sowie einen ebenfalls kaputten amerikanischen M2Bradley. Allerdings: Die Regierung in Kiew hatte bereits vor dem Beginn der Offensive erklärt, mit hohen Verlusten zu rechnen.

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