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Afghanische Mitarbeiterinnen des Gesundheitsdienstes einer Polio-Impfaktion in Herat.

© AFP/MOHSEN KARIMI

Wie geeint sind die Taliban?: Kabuls Machthaber diskutieren intern über Frauenrechte

Die Machthaber in Afghanistan sind divers. Aber eine Spaltung ist nicht zu erwarten. Dennoch kann die EU mehr für die Bevölkerung tun, ohne die Taliban anzuerkennen.

Ein Gastbeitrag von Thomas Ruttig

Regierungen und multinationale Organisationen zerbrechen sich seit Monaten den Kopf, wie sie der notleidenden Bevölkerung Afghanistans beistehen können, ohne das menschenrechtsverachtende und weltweit einmalig frauenfeindliche Regime der Taliban zu finanzieren.

Sollte man – mit diesem Ziel – mit ihnen diplomatischen Kontakt unterhalten? Das ist vermintes Gelände, denn afghanische und andere Taliban-Gegner*innen sehen dahinter eine schleichende Akzeptanz des Regimes. Völlige Isolation aber könnte Millionen der Gefahr des Hungertods aussetzen.

In der Praxis ist die Frage teilweise beantwortet. Die Vereinten Nationen (UN) verhandeln im Auftrag ihrer Mitglieder bereits mit den Taliban über den Zugang zu den am meisten Notleidenden und über die Rücknahme von Einschränkungen. Die USA gaben eingefrorene afghanische Staatsgelder für Nahrungsmittelhilfe teilweise wieder frei.

Diese Gelder werden über die UN und von ihr über zertifizierte Nichtregierungsorganisation geleitet, da alle staatlichen Akteure aus dem Westen ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt haben. Vorwürfe, die Taliban zweigten unter den Augen der UN Gelder ab und sie sei gar von ihnen unterwandert, sind so lautstark wie unbewiesen.

Vermeiden ließen sich mögliche Verteilungskämpfe um Hilfsgelder, wenn die Geberländer genügend dafür gäben. Das tun sie aber nicht – die UN musste kürzlich die Zahl afghanischer Hilfsempfänger*innen um mehrere Millionen kürzen.

Die EU leistet auf gleichem Wege humanitäre Hilfe und ist diplomatisch präsent. Ihre Mitgliedsländer vermeiden damit, ihre Botschaften wiederzueröffnen und den Taliban zusätzlich Anerkennung zu verschaffen. Diese zeigen sich bisher zwar von keinerlei äußerer Ansprache beeindruckt, aber Diplomatie soll mit stetem Tropfen ja den Stein höhlen.

Zum zweiten Jahrestag der Rückkehr an die Macht wurden in Kabul Taliban-Flaggen verkauft.
Zum zweiten Jahrestag der Rückkehr an die Macht wurden in Kabul Taliban-Flaggen verkauft.

© action press/KYODO NEWS

Ansatzpunkte gibt es durchaus. Über den Ausschluss von Mädchen aus den Schulen nach der 6. Klasse und der jungen Frauen aus den Universitäten läuft eine regimeinterne Debatte. Sie wird in sozialen Netzwerken wie auch in den verbliebenen halb unabhängigen afghanischen Medien sichtbar.

Widerspruch vom Sohn des Taliban-Gründers

Dort widerspricht Verteidigungsminister Mullah Yaqub, der als Sohn des verstorbenen Taliban-Gründers Mullah Omar hohes soziales Ansehen genießt, offen dem Verbotskurs von Taliban-Chef Hebatullah Achundsada, der qua Amt eigentlich sakrosankt ist.

Das gilt auch für Innenminister Seradschuddin (Serajuddin) Haqqani, der auf diversen Terrorlisten ganz oben steht, sich sozialpolitisch aber als vergleichsweise modern positioniert.

Sie geben die Stimmung wieder, die die private afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok jüngst per Meinungsumfrage ermittelte: Viele Afghan*innen „wertschätzen die Stabilität“ nach der erneuten Machtübernahme der Taliban, „aber sie bitten die amtierende Regierung, die Tore der Bildungsanstalten für Mädchen wieder zu öffnen und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.“

Yaqubs und Haqqanis Äußerungen als „Machtkampf“ oder „Fraktionsstreitigkeiten“ zu interpretieren, wie es einige Analyst*innen tun, könnte jedoch Illusionen einer baldigen Spaltung der Taliban nähren, auf die die westliche Allianz schon bis 2021 vergeblich hoffte.

Ein Taliban-Kämpfer steht Wache, während Frauen darauf warten, von einer humanitären Hilfsorganisation verteilte Lebensmittelrationen zu erhalten.
Ein Taliban-Kämpfer steht Wache, während Frauen darauf warten, von einer humanitären Hilfsorganisation verteilte Lebensmittelrationen zu erhalten.

© dpa/Ebrahim Noroozi

Yaqub und Haqqani können den auf Lebenszeit bestimmten Talibanchef Achundsada nicht offen herausfordern. Er erhielt zudem im vergangenen Sommer bei einer landesweiten Versammlung der islamischen Geistlichkeit – im heutigen Afghanistan die herrschende Klasse – noch einmal den Gefolgschaftseid.

Änderungen werden nur aus der afghanischen Gesellschaft kommen.

Thomas Ruttig, Autor und Afghanistan-Experte

Sich dagegenzustellen, würde die Einheit der Bewegung gefährden und damit die wichtigste Grundlage der Macht des Regimes, an der auch diese Kritiker interessiert sind – ihr eigenes, nicht nur politisches Überleben hängt davon ab.

Insofern wären interessierte Parteien gut beraten, die innerafghanische Debatte am Köcheln zu halten. Klar ist nämlich auch: Änderungen werden nur aus der afghanischen Gesellschaft kommen.

Für Deutschland und die anderen EU-Länder bietet diese Situation sogar die Chance, endlich eine gemeinsame Afghanistan-Politik zu entwickeln. Deren Fehlen hat erheblich zum Scheitern ihres Afghanistan-Einsatzes, vor allem beim Staatsaufbau, beigetragen.

Dabei müssten die (Überlebens-)Belange der afghanischen Bevölkerung Vorrang genießen und nicht wie bisher Terrorismusbekämpfung und die Abwehr von Flüchtlingen, die ja auch vor den Folgen gescheiterter westlicher Afghanistan-Politik fliehen.

Natürlich gibt es darüber hinaus nationale Interessen, die bilateral geklärt werden müssen, und eine eigene, niederschwellige diplomatische Präsenz erfordern. Deutschland müsste beispielsweise dafür sorgen, dass endlich die verbliebenen Ortskräfte und bedrohten Aktivist*innen mit Aufnahmezusage aus dem Land geholt werden.

Solange das nicht direkt mit den Taliban verhandelt wird, müssen Nichtregierungsorganisationen wie Kabul-Luftbrücke und Mission Lifeline ausreichend finanziert werden, damit sie auch weiterhin diese de facto staatliche Aufgabe ausführen können.

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