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Dmytro Kuleba und Annalena Baerbock am 2. November 2023 in Berlin.

© IMAGO/photothek/Florian Gaertner

Mehr als bloß überleben: Welche Sicherheitsgarantien kann Deutschland der Ukraine geben?

Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Kriegsphase. Umso mehr hofft das Land also auf Sicherheitsgarantien aus dem Westen. Wie Deutschland dazu beitragen kann, erklären zwei Experten. 

Während aktuell der Krieg zwischen Israel und Gaza die internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht, verhandelt Deutschland mit der Ukraine über sogenannte bilaterale Sicherheitsgarantien. Deutschland schließt sich damit anderen Ländern an, mit denen die Ukraine bereits entsprechende Verhandlungen begonnen hat, darunter die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan und Frankreich.

Gerade nach dem Nato-Gipfel in Vilnius im Juli, als das G7-Staatenbündnis der Ukraine Sicherheitszusagen machte, setzte sich das Büro des Präsidenten der Ukraine für derartige Abkommen ein. Grund dafür ist insbesondere, dass die Ukraine im Kriegszustand der Nato nicht beitreten kann.

Hinzu kommt, dass neue internationale Konflikte wie der Krieg zwischen Israel und Gaza stark Ressourcen binden und die Sicherheitsarchitektur der Welt erschüttern. Wie kann gerade vor diesem Hintergrund ein sinnvolles Abkommen zwischen der Ukraine und Deutschland aussehen? Der Tagesspiegel hat mit zwei Expert:innen gesprochen.

Wir können uns nicht nur auf das Wohlwollen dieser oder jener Partner oder auf Wahlergebnisse verlassen

Ihor Semyvolos, geschäftsführender Direktor der Ukrainischen Vereinigung für Nahoststudien

Damit Deutschland die Ukraine im Sinne eines solchen Abkommens unterstützen kann, muss aus Sicht von Ihor Semyvolos, dem geschäftsführenden Direktor der Ukrainischen Vereinigung für Nahoststudien, allen voran die Produktion von Munition und Militärtechnik angekurbelt werden. „Das europäische Versprechen, eine Million Geschosse zur Verfügung zu stellen, wurde noch nicht umgesetzt“, sagt Semyvolos dem Tagesspiegel.

Gerade in solchen Fragen seien bilaterale Abkommen besonders wichtig. „Schließlich können wir uns nicht nur auf das Wohlwollen dieser oder jener Partner oder auf Wahlergebnisse verlassen. Wir müssen Vereinbarungen treffen, die die Verpflichtung zur Bereitstellung angemessener Hilfe unabhängig von den Umständen klar festlegen“, fügt der Experte hinzu.

Warum das „israelische Modell“ nicht für die Ukraine geeignet ist

Semyvolos macht aber auch deutlich, dass trotz der bilateralen Sicherheitsgarantien aus seiner Sicht ein Nato-Beitritt der Ukraine das Ziel bleiben müsse.

Zwischenzeitlich waren aber auch andere Lösungen im Gespräch: Im Sommer sagte etwa US-Präsident Joe Biden in einem Interview mit CNN, dass die USA Kiew Sicherheitsgarantien nach israelischem Vorbild geben könnten. Zu den Hauptelementen würden Finanzhilfen gehören, die der US-Kongress jedes Jahr im Rahmen der Haushaltsausgaben bewilligen kann.

US-Präsident Joe Biden hatte einst Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach israelischem Vorbild ins Spiel gebracht. Damals war der Nahostkonflikt allerdings noch nicht eskaliert.

© imago/UPI Photo/IMAGO/Jonathan Ernst

Die USA sind zudem der größte Waffenlieferant für Israel: Dazu gehören Raketenabwehrsysteme, moderne F-35-Kampfflugzeuge, und Raketenabwehrsysteme. Außerdem helfen die USA Israel beim Aufbau der Energieinfrastruktur wie etwa Gaspipelines. Darüber hinaus bieten die USA Cyberschutz für israelische Einrichtungen.

Das „israelische Modell“ für Kiew wurde allerdings vor der jüngsten Eskalation des Nahostkonflikts debattiert. Seitdem ist es aus ukrainischer Sicht als Variante in den Hintergrund geraten, sagt Semyvolos. Grund dafür seien die grundlegend unterschiedlichen geografischen und territorialen Bedingungen in der Ukraine und in Israel. Auch die rein flächenmäßige Größe der Ukraine erschwert einen Vergleich.

„Es gibt viele Vereinbarungen zwischen den USA und Israel, und es ist keine diskutable Frage für jemanden, Israel zu helfen oder nicht. In dieser Hinsicht wäre es für uns in Ordnung, das gleiche Maß an Zusammenarbeit mit Washington zu erreichen“, sagt Semyvolos, obwohl er das Modell skeptisch sieht.

Das ukrainische Bedürfnis nach festen Zusagen rührt zudem von den anstehenden US-Wahlen im Jahr 2024 her. Carolyn Moser, Sicherheitsexpertin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, sieht in den Präsidentschaftswahlen eine mögliche Gefahr für die Sicherheit in Europa.

Bislang waren die Vereinigten Staaten der Hauptakteur der europäischen Sicherheit. Diese Abhängigkeit ist nicht ohne Probleme und Risiken...

Carolyn Moser, Sicherheitsexpertin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

„Für mich ist die drängendste Frage, wie die Europäer mittel- und langfristig Frieden und Sicherheit in Europa gewährleisten können. Bislang waren die Vereinigten Staaten der Hauptakteur der europäischen Sicherheit. Diese Abhängigkeit ist nicht ohne Probleme und Risiken, nicht zuletzt, weil die transatlantische Unterstützung auch von politischen Konjunkturen abhängt,“ sagt Carolyn Moser dem Tagesspiegel.

Immer wieder äußern Experten und Politiker die Befürchtung, dass mit einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps die US-Unterstützung für die Ukraine schwinden könnte.

© REUTERS/Brian Snyder

Tatsächlich tut die Europäische Union aktuell schon erste Schritte, um in der Rüstung unabhängiger von den USA zu werden: EU-Länder können nun Konsortien beitreten und eine Entschädigung für die Kosten von Rüstungsgütern aus dem EU-Haushalt erhalten. Dr. Carolyn Moser beschreibt diesen Prozess als „bemerkenswert schnell“. Aber die Mitgliedstaaten der EU seien immer noch sehr langsam und unentschlossen, wenn es um die europäische Verteidigung geht.

„Tatsächlich ist unklar, inwieweit die EU ein geopolitisches und militärisches Bündnis wird und wie die zukünftige Beziehung zwischen der EU und der NATO aussehen wird. Dies wird wiederum die langfristige Sicherheit der Ukraine und Europas erheblich beeinflussen. Und politisch bedeuten dauerhafte Sicherheitsvereinbarungen, dass die Ukraine ein Vollmitglied der EU werden sollte, mit all den internen Reformen, die dies mit sich bringt,“ sagt sie.

„Verhandlungen können nur aus einer Position der Dominanz geführt werden“

Ukraine-Exper:innen sind sich einig, dass Abkommen mit westlichen Staaten statt Verhandlungen mit Russland der sicherheitspolitisch richtige Weg für die Ukraine ist. Trotzdem werden Verhandlungen mit Russland immer wieder, teils von anonymen Quellen in internationalen Medien, ins Gespräch gebracht. So zitierte das US-amerikanische Medium „NBC“ etwa kürzlich anonyme europäische Offizielle, die sich für ukrainisch-russische Verhandlungen aussprachen.

Selbst die Befreiung des Territoriums bedeutet jedoch nicht automatisch das Ende des Krieges.

Ukrainischer Nahostexperte Ihor Semyvolos

Dem Thinktank Institute for the Study of War (ISW) zufolge sei der Druck auf die Ukraine, mit Russland zu verhandeln, zuletzt gestiegen. Der Thinktank nannte solche Manöver „schädlich und kontraproduktiv, solange Putin seine minimalistischen Ziele beibehält und glaubt, sie auf dem Schlachtfeld erreichen zu können.“

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erinnerte sich kürzlich daran, dass die Ukraine von 2014 bis zum 24. Februar 2022 etwa 200 Verhandlungsrunden mit Russland abgehalten hat. In diesem Zeitraum wurden 20 Waffenstillstandsabkommen geschlossen, und alle wurden schnell wieder von Russland abgebrochen.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, während er eine Videokonferenzsitzung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates im Kreml leitet und vier besetzte ukrainische Gebiete zu russischem Staatsgebiet erklärt.

© Foto: dpa/Kremlin Pool via Zuma Press Wire/Gavriil Grigorov

„Das Problem bei Verhandlungen ist, dass man nur aus einer Position der Dominanz verhandeln kann. Selbst die Befreiung des Territoriums bedeutet jedoch nicht automatisch das Ende des Krieges. Russland hat unsere Gebiete illegal annektiert und sie als eigene anerkannt. Es steht in ihrer Verfassung, also ist es ein Krieg, der lange dauern wird“, sagt der ukrainische Nahostexperte Ihor Semyvolos.

Konsens darüber, dass die Ukraine aktuell nicht mit Russland verhandeln sollte, herrscht aber gemeinhin innerhalb der deutschen Bundesregierung. Bundeskanzler Olaf Scholz ist etwa der Ansicht, dass Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nur nach dem Abzug der russischen Truppen möglich sind.

Weiterhin bleibt jedoch die Frage, wie die Nato mit Russland umgehen soll, einem Land, das wesentliche Normen des Völkerrechts offen verletzt hat und damit den Frieden und die Sicherheit in Europa destabilisiert hat. Sicherheitsexpertin Carolyn Moser wirft ein, dass die klassischen Instrumente der internationalen Beziehungen in Frage stehen, da sie bereits einmal im Umgang mit Russland versagt haben.

„Und welche Rolle spielt China in alledem? Es gibt in der Tat mehr Fragen als Antworten, nicht zuletzt, weil wir uns bisher nicht getraut haben, die internationale rechtliche und institutionelle Ordnung neu zu überdenken“, gibt Moser zu bedenken.

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