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Gedenkstätten in Osteuropa: Die Skulptur „Gruppe der Häftlinge“ im ehemaligen Arbeitslager Salaspils, südöstlich von Riga, erinnert an die etwa 23.000 Häftlinge. Im nahe gelegenen Wald von Rumbula wurden 1941 über 25.000 Juden erschossen.

© Franziska Davies/Katja Makhotina

Holocaust-Opfer in Osteuropa: Die Leerstellen in der Erinnerungskultur

An osteuropäische Opfer des Zweiten Weltkriegs wird kaum gedacht. Warum das Vergessen von Verbrechen im Osten gefährlich ist.

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Vassili Petrenko, einer der ersten Rotarmisten, die das Gelände von Auschwitz betraten, erinnerte sich an die Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945: „Wir wurden von ausgemergelten Häftlingen in gestreifter Kleidung angesprochen, die in verschiedenen Sprachen etwas sagten. Sie waren lebende Skelette.

Dann sah ich Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen, wandernden Augen, Armen wie Peitschen, dünnen Beinen, die Köpfe waren riesig, und alles andere war wie aufgenäht, als wäre es nicht menschlich. Die Kinder schwiegen und zeigten nur die auf ihre Arme tätowierten Zahlen.

Sie versuchten, sich die Augen abzuwischen, aber sie blieben trocken: Es gab keine Tränen mehr. Während des gesamten Krieges hatte ich nie einen größeren Schock erlebt.“

Vergessene Orte im Osten: Babyn Jar, Berditschiw, Chatyn

Petrenko, der Befehlshaber der 107. Schützendivision, hielt fest: „Selbst ich, ein altgedienter Soldat, konnte es dort nicht länger als fünf Minuten aushalten.“ Die sowjetischen Soldaten nannten den Anblick der KZ-Häftlinge bei der Befreiung als „den stärksten Eindruck während des gesamten Krieges“.

Das Lager Auschwitz steht in unserem Gedächtnis für den industriellen Massenmord an den europäischen Juden. Doch historisch gesehen ist es ein Ort, an dem sich alle Aspekte der Vernichtungspolitik überschneiden.

Es ist ein Konzentrationslager, in dem der Partisanentätigkeit verdächtige Belarusen, Russen und Ukrainer als Arbeitssklaven ausgebeutet wurden. Es ist ein Todeslager für die Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen und der polnischen Intelligenz, eine Todesfabrik des Holocaust und ein Ort der Kriegsverbrechen an der zivilen Bevölkerung der besetzten Gebiete der Sowjetunion.

Gedenkstätten in Osteuropa: Im ehemaligen Arbeitslager Salaspils, südöstlich von Riga, wird an die etwa 23.000 Häftlinge erinnert. Im nahe gelegenen Wald von Rumbula wurden 1941 über 25.000 Juden erschossen.
Gedenkstätten in Osteuropa: Im ehemaligen Arbeitslager Salaspils, südöstlich von Riga, wird an die etwa 23.000 Häftlinge erinnert. Im nahe gelegenen Wald von Rumbula wurden 1941 über 25.000 Juden erschossen.

© Franziska Davies/Katja Makhotina

Weniger präsent ist in Deutschland der „Holocaust vor Auschwitz“ – der Massenmord an sowjetischen Juden, die eben nicht durch die industriellen Tötungsfabriken ermordet, sondern massenhaft erschossen wurden.

Die zahllosen Massaker, angefangen gleich nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941, sind ein Verbrechenskomplex, über den uns kaum Selbstzeugnisse zur Verfügung stehen.

Hier endete die Opferperspektive am Erschießungsgrab, Zeugnisse von Überlebenden gibt es kaum. Die Täter schwiegen nach 1945 oder schrieben die Geschichte um, stellten sich selbst eher als Opfer eines sinnlosen Kriegs dar und nicht als Täter.

Deutschlands ist kein „Meister der Erinnerung“

In Westdeutschland wurde der Mythos der „sauberen Wehrmacht“ gepflegt, die Verstrickung vieler ihrer Soldaten in die Massenverbrechen dagegen nicht thematisiert.

Die Selbstwahrnehmung Deutschlands als „Meister der Erinnerung“ steht im Widerspruch zu den vielen Wissenslücken über den Raub- und Versklavungskrieg im Osten. Bis heute haben viele in Deutschland noch nie von Orten der Massenvernichtung wie Malyj Trostenez, Salaspils, Kaunas Neuntes Fort, Babyn Jar, Berditschiw, Chatyn oder Korjukivka gehört.

Dafür ist nicht nur das „Zu-wenig-Wissen“ verantwortlich, sondern leider noch immer das Nicht-wissen-Wollen, vor allem auf der Seite der Täter. Während das Fußvolk der Wehrmacht sich gerne darauf berief, dass man lediglich ein Werkzeug der Befehlshaber war, verwiesen die Generäle darauf, dass sie persönlich doch „keine Kinder erschossen hatten“.

In diesem Zirkelschluss gab es für deutsche Verantwortung keinen Platz. Der Krieg im Osten wurde nicht zum Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses auch wegen der sich fortsetzenden Vorstellung von der Fremdheit der Opfer.

Die blieben weiterhin Gegner hinter dem Eisernen Vorhang, erinnerten sich in fremder Sprache und in fremden Bildern an den Krieg. Und sie forderten keine Entschädigung.

Der Ausbau des bundesweiten Gedenkstättennetzes zur Erinnerung an die NS-Gewalt führte nicht zur Etablierung eines Gedenkortes explizit für die Opfer in Osteuropa. Bis heute bleibt das Museum Berlin-Karlshorstein historischer Ort, an dem die deutsche Kapitulation unterzeichnet wurde – das einzige Museum in Deutschland, das zumindest an die sowjetischen Opfer erinnert und diese in seiner Dauerausstellung thematisiert.

Diese Schieflage in der deutschen Erinnerungskultur war verbunden mit der Floskelhaftigkeit des „Nie-wieder“: einer Gedenkkultur, die sich mit staatstragenden Ritualen und Kranzniederlegungen zufriedengab. Doch die Monumentalität der Gedenkstätten stand im Gegensatz zu dem nicht vorhandenen Wissen um die Gewalt der Deutschen in Osteuropa.

Ist es nicht bezeichnend, dass man sich erst dann für die ukrainischen NS-Opfer zu interessieren begann, als die Ukraine durch die extreme Gewalt der russischen Angriffe und Besatzung stärker in den Fokus rückte?

Der Holocaust, die Vernichtung des europäischen Judentums, gilt zu Recht als einzigartig. Zwar finden wir in der Geschichte viele weitere Beispiele für genozidale Gewalt gegen bestimmte Gruppen, aber der Aufbau einer entgrenzten Infrastruktur des Tötens mit dem Ziel, auch den allerletzten Juden und die allerletzte Jüdin zu töten, unterscheidet den Holocaust von anderen Massenverbrechen.

Zugleich war der Holocaust untrennbar mit dem deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa verbunden, mit dem Angriff auf Polen und die Sowjetunion wurde er ins Werk gesetzt.

Deswegen sind vorschnelle Vergleiche mit den deutschen Verbrechen in Osteuropa und besonders dem Holocaust bei Phänomenen der Gegenwart sehr oft unangemessen, eine Verhöhnung der Opfer dieses Menschheitsverbrechens – etwa, wenn auf Querdenker-Demonstrationen sich ungeimpfte Menschen einen „Judenstern“ anheften.

Es ist daher geboten, mit NS-Vergleichen sehr vorsichtig zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg einer Relativierung der Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands gleichkommt.

„Nie wieder“ sollte keine Floskel bleiben

Zum einen ist ein Vergleich nicht zwingend eine Gleichsetzung, hat er doch stets auch die Funktion, Unterschiede zu verdeutlichen. Zum anderen sollte das „Nie wieder“ eben keine Floskel in einem abstrakten Raum, sondern für unser Handeln in der Gegenwart leitend sein.

Im Falle der Ukraine bedeutet das, die Ähnlichkeiten mit bestimmten Aspekten des Zweiten Weltkriegs nicht auszublenden. Die russische Totalinvasion hat gezeigt, dass Angriffskriege auch im Europa des 21. Jahrhunderts möglich sind. Putin und seine Entourage legitimieren ihren Überfall mit einer pseudohistorischen neoimperialen Mission, die der Ukraine ihr Existenzrecht als unabhängiger Staat abspricht.

Das russische Besatzungsregime in den besetzten Gebieten zeigt, wie ernst die Kriegstreiber es meinen: gewaltsame Russifizierung, gezielte Verfolgung der Eliten, Zerstörung kultureller ukrainischer Kulturgüter. Nein, Putin teilt nicht Hitlers rassenbiologistischen Wahn, der Aufbau einer industriellen Tötungsmaschinerie ist nicht zu erwarten.

Wir wissen aber nach fast einem Jahr der Totalinvasion, dass die russische Gewalt gegen die ukrainische Zivilbevölkerung weitergehen wird, dass dieser Krieg in der Absicht geführt wird, die Ukraine als Staat und Nation zu vernichten. Aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wissen wir wiederum – Beispiel sind hier die Ukraine und Polen –, dass verbrecherische Besatzungsregime auch nach dem Ende der Kampfhandlungen oft weiter morden und Menschen verschleppen und versklaven.

Die Lehre des Zweiten Weltkriegs ist, dass wir nicht tatenlos zuschauen dürfen, wenn Menschen gezielt getötet, wenn ganzen Nationen ihr Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen wird.

Die politische und militärische Unterstützung der Ukraine ist nicht nur im ureigenen Interesse Deutschlands, um die europäische Friedensordnung wiederherzustellen, es ist auch die historische Verantwortung gegenüber einem Land, das einer der Hauptschauplätze des deutschen Vernichtungskriegs gewesen und nun erneut angegriffen worden ist.

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