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Regierungschef Netanjahu behauptet, die Demokratie sei nicht in Gefahr. Zehntausende Israelis sehen das anders.

© dpa/Ohad Zwigenberg

Holocaust-Gedenken: Auch Israel hat eine Verantwortung - für seine Demokratie

Das Land zusammenzuhalten, den Staat der Juden, einzig in der Welt: Diese Verpflichtung hat die israelische Politik. Über alle Gräben hinweg.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Die Erinnerung an die Opfer der Schoah, an die Helden und Märtyrer des Aufstands im Warschauer Ghetto – sie geht weiter, über die Veranstaltungen am Gedenktag hinaus. In Berlin und anderswo: „Marsch des Lebens: Aufstand gegen Antisemitismus – Erinnern, Versöhnen, Zeichen setzen – Kundgebung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“, Hunderte Teilnehmende, vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas bis zum Bundeskanzleramt, ganz aktuell. Der Weg zeigt das Ziel. Das von der Bundesregierung beschworene „Nie wieder“ bedeutet: Nie vergessen, immer daran denken.

Das gilt zumal im Umgang mit dem Staat der Juden. Denn Israel ist die „Verkörperung der jüdischen Unabhängigkeit und der Fähigkeit, über das eigene Schicksal zu entscheiden, ohne sich auf andere verlassen zu müssen“. So hat es Ron Prosor ausgedrückt, der israelische Botschafter – und das ist insofern auch eine Verpflichtung: Es gehört zur deutschen Staatsräson, dass sich Israel in Sonderheit auf die Nachfahren im Land der Täter verlassen kann.

Und das wiederum gilt auch dann, wenn die politische Entwicklung in Israel massive Kritik hervorruft. Was sie tut, im Land, hierzulande, international. Was Ron Prosor ebenfalls thematisiert hat, hier in Deutschland, aber im Blick auf seine Landsleute. „Wir müssen daran arbeiten, Tag und Nacht, dass der einzige Staat der Juden in der Welt ein herausragendes Beispiel ist“, eines für Demokratie und Menschenrechte. „Das ist unsere gemeinsame Mission – und unsere Verantwortung vor den Überlebenden der Shoah, und gegenüber den künftigen Generationen.“

In den Worten des Botschafters liegt die Botschaft, die große Verpflichtung für Israel: das Andenken der Toten und der Lebenden zu ehren, indem die Israelis den ersten und einzigen Staat der Juden zusammenhalten. Über alle Gräben im Land hinweg, die von der rechtsreligiösen Koalition aufgerissen wurden, unter anderem durch die Besetzung der Ministerämter und die hochumstrittene Justizreform.

Zusammenhalten, indem sie im Land wieder zusammenfinden und zusammenstehen, ob sephardischer oder aschkenasischer Jude, ob rechts oder links. Die Säkularen mögen 75 Jahre nach der Gründung des Staates jetzt die Minderheit geworden sein – aber an den Grundfesten Israels darf das nicht rütteln.

Da ist es nicht übertrieben, wenn Prosor mit einigem Stolz darauf hinweist, wie in diesen Tagen in Israel Demokratie gelebt wird und funktioniert, bis hinein in die einzelne Familie. Alleingänge der Regierung werden nicht einfach hingenommen, sondern führen zu Protestmärschen auf der Straße, die wiederum die Politik aufs Neue in Bewegung bringen.

Der Staat Israel als die Verkörperung eines 2000 Jahre alten Traums, für dessen Verwirklichung Unzählige ihr Leben lassen mussten – eingedenk dessen verlaufen diese Tage. Werden dabei auch zur Aufforderung, „vom Abgrund zurückzutreten“, wie Rabbi Pinchas Goldschmidt, Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz, jetzt in der „Jüdischen Allgemeinen“ schrieb. „Ein jüdischer Staat kann nur ein pluralistischer, ein demokratischer sein, alles andere würde gar nicht zu diesem Volk passen.“ Und alles andere wäre historisches Versagen.

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