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Jacques Delors, der ehemalige französische Präsident der Europäischen Kommission, im Jahr 2013.

© dpa/Olivier Hoslet

Früherer EU-Kommissionspräsident Delors ist tot: Ein pragmatischer Vorkämpfer für ein integriertes Europa

Er war ein überzeugter Sozialist und wurde oft als einer der „Väter des Euro“ bezeichnet. Nun ist Jacques Delors im Alter von 98 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Er war der letzte noch lebende „Ehrenbürger Europas“ und damit Träger einer Auszeichnung, die nur zwei Männer vor ihm erhalten haben, nämlich Jean Monnet als Mitbegründer der Montanunion 1952 und der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl.

Auch wurde Jacques Delors oft als einer der „Väter des Euro“ bezeichnet, und doch, so sagte der Franzose im Jahr 2011, auf Höhe der griechischen Staatsschuldenkrise, sei er „nicht der Vater dieses Euro“, ausgestattet mit zu vielen Konstruktionsfehlern, weil die Währungs- nicht durch eine Wirtschaftsunion vervollständigt worden sei.

Ein überzeugter Sozialist, ein anspruchsvoller und zugleich pragmatischer Vorkämpfer für ein integriertes Europa war Delors, der zehn Jahre an der Spitze der EG- und dann der EU-Kommission stand. Am Mittwoch ist er im Alter von 98 Jahren gestorben. 

Wie kaum ein anderer Politiker hat er den europäischen Integrationsprozess und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes vorangetrieben und war ein Motor für die gewaltige Umbruchsstimmung, die die EU Mitte der 80-er Jahre erfasste: 1985 wurde der Vertrag von Schengen geschlossen, Spanien und Portugal kamen 1986 als neue Mitglieder hinzu, das Studenten-Austausch-Programms Erasmus entstand 1987.

Entschlossen ging Delors das Ziel an, den Binnenmarkt massiv auszubauen, Handelshemmnisse und steuerliche Schranken abzubauen, bis es keine Personen- und Warenkontrollen mehr an den EG-Binnengrenzen gebe. 

Delors ebnete den Weg zur Gemeinschaftswährung der EU

Auch die Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags 1992 begleitete er und ebnete den Weg zur Gemeinschaftswährung. Ihn trug die Überzeugung, diese fördere auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer. „Der Euro wird uns Frieden, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit bringen“, prophezeite der diskret auftretende Politiker mit dem hintersinnigen Lächeln. 

Bis ins hohe Alter trat er als Mahner für mehr nachbarschaftliche Verständigung, weniger nationale Egoismen, für nachhaltigen Klimaschutz, den Kampf gegen soziale Ungleichheit und eine EU-weite Sozialpolitik ein. „Das Fehlen von Solidarität bringt die Europäische Union in eine tödliche Gefahr“, warnte Delors noch im März 2020, als die Coronavirus-Pandemie Europa erreichte und Anfangsschwierigkeiten bei der Koordinierung zum Vorschein traten.

In relativ einfachen Verhältnissen als Sohn eines Kassierers bei der französischen Nationalbank Banque de France und einer Hutmacherin in Paris aufgewachsen, studierte Jacques Delors zunächst Jura, bevor er eine höhere Bankenschule abschloss und ebenfalls in der Banque de France Karriere bis hin zum stellvertretenden Direktor machte. Zugleich engagierte er sich in der Vorläufer-Gewerkschaft der heutigen CFDT, die als gemäßigt und reformorientiert gilt.

Fünf Jahre nach seinem Eintritt in die Sozialistische Partei wurde Delors 1979 EU-Abgeordneter und 1981 unter Präsident François Mitterrand französischer Wirtschafts- und Finanzminister, wo er zunächst dessen sozialistische Phase mit Verstaatlichungen, Erhöhung der Mindestlöhne und Verkürzung der Arbeitszeiten begleitete, bevor der Wechsel hin zu einem strikten Sparkurs folgte.

Mitterrand war es auch, der seinen Parteifreund als Kommissionspräsidenten vorschlug, der der Europäischen Gemeinschaft in den Folgejahren neuen Elan zu verschaffen wusste. Europa, so sagte er selbst, sei ein „spirituelles Abenteuer“. Anders als Mitterrand war Delors ein Fürsprecher der deutschen Wiedervereinigung: Die Ostdeutschen gehörten für ihn ganz selbstverständlich zu Europa. „Ich habe keine Angst“, sagte er am 12. November 1989 im deutschen Fernsehen – und zwar auf Deutsch. 1992 erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen.

Für große Verwunderung sorgte es, als Delors am Ende seiner Karriere in der EU-Kommission seinen politischen Ruhestand verkündete, anstatt sich zum Kandidaten der Sozialisten bei der französischen Präsidentschaftswahl 1995 zu erklären. Es fehlten ausreichende Mehrheiten für einen Sieg, begründete er selbst und enttäuschte dabei nicht wenige. Seine Tochter Martine Aubry, ehemalige Sozialisten-Chefin und langjährige Bürgermeisterin von Lille, war 2012 wiederum in den Vorwahlen ihrer Partei gescheitert.

Delors engagierte sich in der Folge auf andere Weise, etwa als Verwaltungsratsvorsitzender im angesehen Collège d`Europe in Brügge und mit seinem Verein „Unser Europa – Institut Jacques Delors“. Hier kämpfte er weiter für seine Vision einer geeinten, starken Union, die für seine vielen Anhänger weiterhin ein unverkennbares Ziel ist. 

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