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„Viele sind hungrig und erschöpft und brauchen sofort Unterstützung“, sagte UNHCR Flüchtlingskommissar Filippo Grandi.

© Reuters/Irakli Gedenidze

Update

Nach Niederlage gegen Aserbaidschan: Mehr als 100.000 fliehen aus Bergkarabach nach Armenien – EU soll helfen

Nach der angekündigten Aufgabe des Gebiets im Südkaukasus wird damit gerechnet, dass alle 120.000 ethinschen Armenier Bergkarabach verlassen. Das UNHCR bezeichnet die Lage als dramatisch.

| Update:

Nach der angekündigten Auflösung der selbsternannten Republik Bergkarabach sind nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR mehr als 100.000 Geflüchtete aus der Region in Armenien angekommen. „Viele sind hungrig und erschöpft und brauchen sofort Unterstützung“, sagte Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. „Internationale Hilfe wird sehr dringend benötigt“, sagte er.

Armenien rechnet nach früheren Angaben damit, dass alle ethnischen Armenier die selbst ernannte Republik inmitten Aserbaidschans verlassen werden. In der Enklave, die inmitten von Aserbaidschan liegt, lebten zuvor insgesamt geschätzt rund 120.000 ethnische Armenierinnen und Armenier. In Armenien selbst wohnen 2,8 Millionen Menschen.

Um das Gebiet hat es seit Jahrzehnten Kämpfe mit Tausenden Toten gegeben. Vergangene Woche hatte Aserbaidschan eine Offensive gestartet, kurz darauf kapitulierten die Machthaber der international nicht anerkannten Republik, die nun zum 1. Januar 2024 aufgelöst werden soll.

Viele Bewohner von Bergkarabach sehen keine Zukunft in Sicherheit mehr für sich in ihrer Heimat.

Robin Wagener, Koordinator des Auswärtigen Amts für die Zusammenarbeit mit dem Südkaukasus

Armenien hat die Europäische Union italienischen Angaben zufolge um Hilfe bei dem Zustrom Geflüchteter aus Bergkarabach gebeten. Armenien habe um Medizinbedarf und Notunterkünfte gebeten, teilte das Büro der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit.

Nach der Niederlage der proarmenischen Kräfte gegen Aserbaidschan hatte die Führung von Bergkarabach am Donnerstag die Auflösung der selbsternannten Republik verkündet. Das Auswärtige Amt erwartet nun, dass der aserbaidschanische Militäreinsatz im Südkaukasus dramatische Folgen haben könnte. Auch die UN gehen davon aus, dass alle Armenier Bergkarabach verlassen.

„Seit Tagen füllen Autokonvois mit Zehntausenden die Straße von Bergkarabach nach Armenien. Wir müssen befürchten, dass sich die allermeisten Bewohner in den kommenden Tagen anschließen, was auf ein fast menschenleeres Bergkarabach hinauslaufen könnte“, sagte Robin Wagener, Koordinator für die Zusammenarbeit mit dem Südkaukasus, dem digitalen Medienhaus „Table.Media“

Aserbaidschan habe „trotz laufender Friedensverhandlungen mit Armenien“ auf die militärische Karte gesetzt und Tatsachen geschaffen, sagte der Grünen-Politiker Wagener. „Viele Bewohner von Bergkarabach sehen keine Zukunft in Sicherheit mehr für sich in ihrer Heimat.“

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) arbeite „zusammen mit unseren Partnern daran, dass endlich Beobachter nach Bergkarabach entsendet werden können“, so Wagener weiter. Es sei gut, dass die Regierung Aserbaidschans signalisiert habe, dass UN-Mitarbeiter bald vor Ort über die Lage berichten können. 

Aserbaidschan sei zwar ein bedeutender Energiekorridor Richtung Europa, sagte Wagener: „Gleichzeitig müssen wir Baku aber klarmachen, dass eine weitere militärische Eskalation nicht folgenlos bleiben würde.“ Deutschland unterstütze die demokratisch gewählte Regierung Armeniens. „Destabilisierungsversuche von wo auch immer sind inakzeptabel“, sagte Wagener.

Fast ein Drittel der Flüchtlinge, die in Armenien ankommen, seien Kinder, sagte ein UNHCR-Vertreter.

© dpa/Vasily Krestyaninov

Baerbock hatte die Regierung in Aserbaidschan zuvor aufgerufen, internationale Beobachter in Bergkarabach zuzulassen. Zudem brauchten die Menschen dort nach langer Blockade Lebensmittel und Arznei.

Ein Drittel der nach Armenien Geflüchteten sind Kinder

Auch das Flüchtlingshilfswerk schließt nicht aus, dass alle bisherigen Bewohner der Kaukasus-Region nach Armenien kommen werden. „Wir sind bereit, mit bis zu 120.000 Menschen zurechtzukommen“, sagte die für Armenien zuständige UNHCR-Vertreterin Kavita Belani am Freitag einem Bericht der Agentur Reuters zufolge.

Bislang seien mehr als 85.000 Menschen aus Bergkarabach in Armenien eingetroffen. Für die örtlichen Behörden sei das sehr herausfordernd. An den Registrierungszentren drängelten sich ganze Massen erschöpfter und verängstigter Menschen.

Seit dem aserbaidschanischen Militäreinsatz in Bergkarabach verlassen Zehntausende Menschen die Enklave. Die Straßen, die sich in Serpentinen von dort nach Armenien schlängeln, sind voller Menschen.

© dpa/AP/Satellite image ‘2023 Maxar Technologies/Uncredited

Fast ein Drittel der Flüchtlinge seien Kinder, sagte ein weiterer UNHCR-Vertreter. „Unsere große Sorge ist, dass viele von ihnen von ihren Familien getrennt wurden“, ergänzte die Regionaldirektorin Regina De Dominicis vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef).

Seit dem aserbaidschanischen Militäreinsatz in Bergkarabach verlassen Zehntausende Menschen die Enklave. Die Straßen, die sich in Serpentinen von dort nach Armenien schlängeln, sind voller Menschen. Viele verbringen die Nächte in ihren Autos und in Bussen. Andere suchen am Straßenrand Holz, um ein Feuer zu machen und sich aufzuwärmen.

„Ich habe alles zurückgelassen. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Ich habe nichts“, sagte Vera Petrosjan, eine 70-jährige pensionierte Lehrerin.

Seit dem aserbaidschanischen Militäreinsatz in Bergkarabach versuchen Zehntausende Menschen die Enklave zu verlassen.

© AFP/Paz Pizzaro und Robin Bjalon

Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wurde aber bisher überwiegend von ethnischen Armeniern bewohnt. Diese hatten die Region mithilfe der armenischen Regierung drei Jahrzehnte lang weitgehend kontrolliert.

Am Dienstag vergangener Woche aber hatte Aserbaidschans Militär das Gebiet angegriffen. Einen Tag später stimmten die ethnischen Armenier dort notgedrungen einer Feuerpause zu. Bei dem von Aserbaidschan geführten Militäreinsatz in Bergkarabach wurden nach Angaben des aserbaidschanischen Gesundheitsministeriums 192 eigene Soldaten getötet.

Der Menschenrechtsbeauftragte von BergkKarabach, Gegam Stepanjan, hatte mitgeteilt, dass bei den Kämpfen mindestens 200 Menschen getötet und etwa 400 verletzt worden seien.

Die aserbaidschanische Regierung und auch Russland, das als Schutzmacht Armeniens gilt, hatten erklärt, dass es keinen Grund zur Flucht gebe. Allerdings befürchten die Karabach-Armenier Verfolgung und Gewalt durch Aserbaidschan.

In Eriwan warf Regierungschef Nikol Paschinjan dem Nachbarland am Donnerstagabend bei einer Regierungssitzung „ethnische Säuberungen“ vor, wie die Agentur dpa berichtete.

„Die Analyse der Situation zeigt, dass in den kommenden Tagen in Berg-Karabach kein Armenier mehr sein wird.“ (lem)

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