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Frieden auf Erden: So heißt die Siedlung, in der Sirley Gil mit ihrer Familie lebt und unter anderem  Bananen, Limonen, Bohnen, Süßkartoffeln und Maniok anbaut.

© Sirley Gil mit ihren Enkelinnen / IAN CHEIBUB

Erfolgreicher Kampf für den eigenen Acker : Wie Hunderttausende Tagelöhner in Brasilien zu Kleinbauern wurden

Brasiliens Landlose sind die größte soziale Bewegung Lateinamerikas, trotz brutaler Widerstände. Bio-Lebensmittel bieten vielen von ihnen eine Existenzgrundlage.

Der Blick über das Land von Sirley Gil ist malerisch. „Wir haben Frieden“, sagt die 54-Jährige. „Endlich!“ Sie hat mit ihrem Mann ein Haus auf einem Hügel gebaut. Von hier oben schaut man auf einen Fischteich, auf dem Gänse schwimmen. Auf dem gegenüberliegenden Hang erstreckt sich ein Gemüsegarten, in dem Kohl, Karotten, Rote Beete und Spinat wachsen. Etwas abseits grasen ein paar Kühe.

Die Szenerie ist eingefasst von dunklem Regenwald, der hier, in den Bergen nahe der Kleinstadt Piraí und rund zwei Stunden von Rio de Janeiro entfernt, einst alles bedeckte.

Ein Traum wird wahr

23 Hektar Land besitzen Sirley Gil und ihr Mann. Auf weiteren Parzellen pflanzen sie Bananen, Limonen, Bohnen, Süßkartoffeln und Maniok. Die Gils zählen damit zu Brasiliens mehr als fünf Millionen Kleinbauern, die Lebensmittel für den heimischen Markt produzieren.

Drei Viertel von Brasiliens Agrarfläche gehören nur zehn Prozent der Landwirte, während sich 90 Prozent der Bauernschaft das restliche Viertel teilen.
Drei Viertel von Brasiliens Agrarfläche gehören nur zehn Prozent der Landwirte, während sich 90 Prozent der Bauernschaft das restliche Viertel teilen.

© imago/Westend61/imago stock&people

Für Sirley Gil und ihren Mann, der heute in der Stadt zu tun hat, ist mit dem Hof ein Traum in Erfüllung gegangen. „Vor rund 15 Jahren besaßen wir keinen Quadratmeter Land“, sagt sie. „Wir waren Landlose.“ Sie zählten zu den Hunderttausenden Brasilianern, die gerne landwirtschaftlich tätig wären, aber keinen Boden hatten.

Wie viele andere Landlose lebten die Gils in ländlichen Armensiedlungen und arbeiteten als Tagelöhner. Schließlich schlossen sie sich der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) an. „Ohne die MST würde ich wahrscheinlich mit Depressionen in einer winzigen Sozialwohnung sitzen“, sagt Sirley Gil.

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Die MST, in der Landlose gemeinsam um ein Stück Scholle streiten, hat nicht nur das Leben der Gils verändert. Rund eine halbe Million Familien haben durch die Organisation in den vergangenen Jahrzehnten Boden erhalten. „Land bedeutet nicht nur Arbeit, sondern auch Würde und Teilhabe“, sagt Sirley Gil.

Reiches Land, arme Bauern

Die Landlosenbewegung, wie sie kurz genannt wird, entstand 1984, um für eine Landreform zu kämpfen. Die Ausgangsfrage war einfach: Warum gibt es in einem reichen Land wie Brasilien so viel Arme? Hervorgegangen aus verschiedenen Bauernbewegungen, liegen ihre ideologischen Wurzeln in der katholischen Befreiungstheologie und dem Marxismus. Heute ist sie die größte soziale Bewegung Lateinamerikas – und eine der erfolgreichsten.

In mehr als 2000 Agrargemeinschaften und Kooperativen bauen MST-Mitglieder vorrangig Bio-Lebensmittel an. So ist die MST beispielsweise die größte Produzentin von Bio-Reis in Lateinamerika.

Auch Sirley Gil ist stolz darauf, dass sie auf ihrem Hof weder Pestizide noch Kunstdünger einsetzt. „Aber wir könnten uns auch keinen Kunstdünger leisten“, schränkt sie ein. Der Verkauf ihrer Erzeugnisse über die MST-Kooperative bringt ihr monatlich nur umgerechnet 350 Euro ein. Andererseits muss sie kaum Lebensmittel kaufen, weil sie Gemüse, Kartoffeln, Früchte, Milch und Eier selbst produziert. Sie sagt, dass sie noch nie so glücklich und stolz gewesen sei.

Brasiliens Großbauernschaft konnte in ihrem Kampf gegen die Kleinbauern lange Zeit auf die Unterstützung des 2022 abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro setzen.
Brasiliens Großbauernschaft konnte in ihrem Kampf gegen die Kleinbauern lange Zeit auf die Unterstützung des 2022 abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro setzen.

© REUTERS/stringer

Es mag auch mit dem Erfolg der MST zu tun haben, dass sie von Brasiliens Großbauernschaft und den Anhängern des rechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro bekämpft wird. Bolsonaro versprach, mit der MST „Schluss zu machen“. Derzeit tagt in Brasilia ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der von bolsonaristischen Abgeordneten durchgesetzt wurde, die nachweisen wollen, dass die MST eine „kriminelle Organisation“ sei, die den ländlichen Raum „terrorisiere“.

Erbe der Kolonialzeit

Über der Frage der Bodenverteilung prallen in Brasilien zwei Weltanschauungen aufeinander. Fast nirgends auf der Welt ist der Boden so ungerecht verteilt wie hier. Die Konzentration des Landes in den Händen weniger ist ein Erbe der Kolonialzeit, als die Portugiesen riesige Flächen unter sich aufteilten.

2000
Agrargemeinschaften und Kooperativen gibt es in Brasilien, in denen Mitglieder der Landlosen-Bewegung vorrangig Bio-Lebensmittel anbauen

Im 20. Jahrhundert wurde Land, das oft Indigenen gehörte, an europäischstämmige Siedler und Unternehmen gegeben. Es tauchten Landräuber auf, die sich illegal öffentlichen Grund aneigneten. Heute sind Flächen von der Größe der Niederlande in den Händen von Privatleuten und Konzernen.

2020 fasste eine Studie das Ungleichgewicht in Zahlen: Drei Viertel von Brasiliens Agrarfläche gehören nur zehn Prozent der Agrarwirte, während sich 90 Prozent der Bauernschaft das restliche Viertel teilen.

Ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen ist für die MST die Besetzung von Ländereien, die als „unproduktiv“ gelten, die also brach liegen und nicht ihre in der Verfassung vorgeschriebene „soziale Funktion“ erfüllen. Brasiliens Gesetz eröffnet die Möglichkeit zur Enteignung dieser Ländereien und ihrer Überführung in das Institut für Agrarreform (Incra).

Durch unsere Besetzungen üben wir beharrlich Druck aus, damit etwas geschieht.

Celso Alves, Koordinator der Landlosenbewegung

Aber in der Praxis passiert dies selten. Eine Agrarreform kommt seit Jahrzehnten nicht voran, weil die mächtige Agrarindustrie sich dagegen stemmt. Zahlreiche Abgeordnete und Gouverneure sind selbst Großgrundbesitzer oder werden von der Agrarindustrie bezahlt. Sie sprechen von MST-Mitgliedern als „vagabundos“, Faulenzern und Verbrechern.

Morde und Massaker

Auch vor Gewalt schrecken einzelne Landbesitzer nicht zurück. Tausende Kleinbauernführer wurden in Brasilien in den vergangenen 50 Jahren ermordet. 1996 erschossen Polizisten 19 Landlose im Bundesstaat Pará. Es war das größte Massaker an MST-Mitgliedern. Die Situation hat sich zwar verbessert, aber es werden immer noch MST-Sprecher bedroht. Ex-Präsident Jair Bolsonaro liberalisierte den Waffenbesitz auch mit dem Argument, dass die Großbauern sich besser verteidigen können sollten.

Die MST-Siedlung von Sirley Gil heißt Paz na Terra (Frieden auf Erden) und ist die Heimat von 32 Familien, die sich insgesamt 400 Hektar teilen. Damit ist sie eine kleine MST-Siedlung – in den größten leben rund 2000 Familien.

Das hügelige Land, durch das ein paar Staubstraßen führen, gehörte einst einem Großgrundbesitzer, der wegen Sklavenarbeit verurteilt und enteignet wurde. Das Incra verteilte es an die Bauern der MST, die ein Protestcamp errichtet hatten, in dem auch Sirley Gil monatelang ausharrte.

Celso Alves lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in einer Siedlung der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST).
Celso Alves lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in einer Siedlung der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST).

© IAN CHEIBUB

„Durch unsere Besetzungen üben wir beharrlich Druck aus, damit etwas geschieht“, sagt Celso Alves. Der 54-Jährige lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in der benachbarten MST-Siedlung. Sie heißt Roseli Nunes, benannt nach einer 1987 ermordeten MST-Führerin.

Alves stammt aus Brasiliens Süden, wo viele Bauern von der Sojaindustrie verdrängt wurden. Er schloss sich 1993 der MST an. Heute baut er auf seinem Hof Gemüse, Früchte und Wurzelgemüse an, hält Schweine und Hühner.

Eine politische Mission

Alves ist einer der MST-Koordinatoren in der Region und hat eine Art Ausbildung durchlaufen. „Es geht in der MST nicht nur ums Land“, sagt er. „Sondern darum, politisches Bewusstsein zu schaffen.“

Die MST organisiert regelmäßig Jugendcamps, es gibt politische Schulungen und Kurse, etwa in ökologischer Landwirtschaft oder Verwaltung. Alves reiste schon zum Austausch mit Partnerorganisationen der MST nach Mosambik und Guatemala. „Ohne Bildung bleibst du ein Sklave der ungerechten Verhältnisse“, sagt er.

Die Siedlung Roseli Nunes ist mehr als 1000 Hektar groß, aber 700 Hektar sind ein Waldschutzgebiet und werden nicht angetastet. Das Land gehörte früher einem Industrieunternehmen, das es nicht nutzte. Deswegen wurde es von Alves und anderen MST-Mitgliedern besetzt. Mehrfach wurden sie von der Polizei vertrieben, bis das Incra 2006 einer Enteignung zustimmte.

Orangen sind eines der wichtigsten Exportprodukte der brasilianischen Landwirte.
Orangen sind eines der wichtigsten Exportprodukte der brasilianischen Landwirte.

© REUTERS/Paulo Whitaker

Die Bauern, die Land erhielten, konnten sich dann entscheiden, der MST-Kooperative beizutreten und ihre Produkte gemeinschaftlich zu vermarkten, aber es ist nicht obligatorisch. „Viele arbeiten lieber für sich allein, es steht jedem frei“, sagt Alves.

Jeden Samstag bringt er seine Produkte zum MST-Gemeinschaftshaus mit dem Ché-Guevara-Konterfei, von wo ein alter VW-Bus sie auf Märkte oder in die Geschäfte fährt, die die MST mittlerweile in vielen Städten unterhält. Übers Internet lassen sich zudem saisonale Lebensmittel bei der MST bestellen.

Als der MST-Untersuchungsausschuss in Brasilia kürzlich mit Pedro Stedile ein MST-Gründungsmitglied vorlud, beschuldigten rechte Abgeordnete ihn, eine kriminelle Organisation anzuführen, die illegal Land besetze. „Wenn ihr wirklich wollt, dass die MST verschwindet, macht eine Agrarreform“, erwiderte Stedile.

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